Sexueller Mißbrauch
Ca. 3% der Frauen berichten über Inzesterlebnisse(1). Sexueller Mißbrauch findet zumeist in den Familien statt und betrifft in 75% der Fälle Mädchen, wobei die Täter ganz überwiegend aus der Familie oder dem sozialen Nahraum des Kindes stammen(2).
Bereits Freud äußerte sich zur Häufigkeit inzestuösen Geschehens: "Auch wirkliche Verführung ist häufig genug, sie geht entweder von anderen Kindern oder von Pflegepersonen aus, die das Kind beschwichtigen, einschläfern oder von sich abhängig machen wollen. Wo Verführung einwirkt, stört sie regelmäßig den natürlichen Ablauf der Entwicklungsvorgänge; oft hinterläßt sie weitgehende und andauernde Konsequenzen"(3). Inzwischen ist eine Fülle wissenschaftlicher Literatur über die Folgen und die Therapie sexuell mißbrauchter Kinder erschienen(4,5,6).
Sexuelle Handlungen an Kindern bedeuten immer massive Grenzüberschreitungen. Sie kränken und demütigen das Kind. Es erlebt sich als ohnmächtiges Opfer, das sich gegenüber dem Erwachsenen nicht wehren kann. An Kindern ausgeübte Sexualität, aber auch erotisch gefärbtes Verhalten bewirken außerdem eine tiefe Bindung und Fixierung an die Verführer. In der Psychotherapie von Inzest-Opfern spielen Abgrenzung und die Loslösung von dem Täter eine wichtige Rolle.
Sexuell getönte Spiele oder auch erotische Anspielungen führen selbstverständlich nicht immer zum Inzest, der zumeist von Männern begangen wird. Es sind jedoch auch Mütter, insbesondere alleinstehende Mütter, die der Versuchung erliegen, erotisch gefärbte Phantasien zu ihrem Sohn auf irgendeine Art und Weise, wenn auch sehr versteckt, auszuleben. Wie sieht das Ausleben von inzestuösen Phantasien aus?
Eine Mutter will ins Theater. Sie hat ihr Abendkleid an und fragt ihren 8jährigen Sohn: "Magst du das Kleid auch leiden?" Nicht der Ehemann, sondern der Sohn, mit dem sie sich viel besser versteht, wird zu erotisch gefärbten Spielen herangeholt. Später, als er 18 Jahre alt war, sagte sie zu ihm: "Wenn du noch mal auf die Welt kommst, werde ich dich heiraten." Eine falsch verstandene, freie Sexualerziehung ist manchmal Deckmantel von inzestuösen Handlungen. "Mein Sohn soll alles wissen und erfahren. Er geht schon ziemlich weit. Er ist jetzt 6 Jahre alt. Neulich wollte er mein Genitale untersuchen. Da wurde mir doch etwas unheimlich." Dies berichtete eine junge Mutter freimütig über ihr Verhältnis zum Sohn.Die Ursache für das Ausleben inzestuöser Phantasien, die als Phantasie etwas Normales sind, liegt in unausgelebter Sexualität der Eltern und in Beziehungsstörungen zwischen diesen. Die Grenzen zwischen einer normalen Zuneigung eines Vaters zu seiner herzerfrischenden, verführerischen Tochter und dem Beginn eines inzestuösen Verhaltens sind fließend. Sie sind jedoch bei eindeutigen sexuellen Praktiken überschritten.
Hirsch erwähnt einen weiteren Aspekt des ausagierten Inzests, dessen Funktion es ist, "die Trennungsangst der Familienmitglieder zu vermeiden, da alle Bedürfnisse, auch gerade die sexuellen, innerhalb der Familie befriedigt werden"(7).
In der Pubertät werden inzestuöse Wünsche auf Seiten des Kindes erneut wach, so daß die Familie unter enorme Spannungen gerät, falls eine zu starke Bindung an das Elternhaus besteht. Die Gebundenen fühlen sich wie unter einer "Glasglocke". Ihr Aktionsradius ist stark eingeschränkt, er endet an den Grenzen zur Außenwelt, die jenseits der Glasglocke liegt. Unsichtbare Wände - die Bindungsmodi - hindern die Gebundenen daran, sich frei nach außen zu bewegen und sich Freunde zu suchen.
Der Inzest im TraumInzestträume sind verwirrend, beschämend und oft schockierend, da Inzest zu Recht mit einem Tabu belegt ist.
Inzestszenen in Träumen bedeuten, daß eine zu enge familiäre Bindung besteht, die entweder durch realen Inzest verursacht wurde oder durch andere Bindungsmechanismen.
Inzestuöse Handlungen einer Mutter
Ein Physikstudent berichtet: "Meine Mutter hat mich jeden Morgen angezogen. Als sie damit aufhörte, war ich 8 Jahre alt. Ich habe ihr beim Ankleiden oft den Busenhalter schließen müssen. Sie begründete es damit, daß sie hinten ja schlecht drankäme.
Sonnabends war bei uns Badetag. Zunächst habe ich recht lang mit ihr zusammen im Bad gelegen, wobei ich ein deutliches Interesse an ihrem weiblichen Körper gezeigt habe. Wir haben dann auch miteinander gespielt, wobei es zu ganz eindeutigen Berührungen kam. Ich habe ihr oft den Rücken gewaschen und dabei Interesse gezeigt, ihre Brust mitzuwaschen.
Auch die Tatsache, daß ich bis zu meinem 9. oder 10. Lebensjahr mit ihr zusammen in einem Bett schlief, trägt sicher zu dieser Form der Bindung bei, schließlich konnte ich sie ja oft abends beim Auskleiden betrachten.
Ich denke, dies alles trägt ganz entschieden zu meiner Angst vor Beziehungen bei. Denn neben der Angst vor Nähe, als dem Aspekt des Grenzenlosen und damit des Verschlungenwerdens, habe ich große Angst vor Sexualität. Einerseits, weil ich eine große Erwartungshaltung habe, ich muß etwas für sie tun, nämlich sie befriedigen und das auch noch besonders gut, andererseits, weil ich eine Scheide als riesengroß sehe, eben so, wie ich als kleines Kind die Genitalien meiner Mutter als riesengroß gesehen habe. Dieses Bild habe ich heute noch klar vor Augen."In einem Traum des Physikstudenten begegnen sich Sohn und Mutter wie früher in einer enormen Nähe und Intimität, die er durch den Mord der Mutter überwindet:
"Ich komme in ein recht helles Badezimmer. Vor der Wanne hockt meine Mutter, die nichts außer einem weißen Frottee-Bademantel trägt. Sie läßt Wasser in die Wanne und fühlt gerade mit der Hand die Temperatur. Mein Vater steht in der Tür und schaut auf uns. Ich bin nackt und stehe gleich neben meiner Mutter. Zunächst bin ich etwas empört darüber, daß ich hier nackt stehe und meine Mutter keine Anstalten macht, mich beim Baden allein zu lassen. Das sage ich ihr, doch sie antwortet nicht. Statt dessen schaut sie mich nur lächelnd an wie ein kleines, nicht ernstzunehmendes Kind. Ich bin zunächst nicht reaktionsfähig.
Wenn ich sie ansehe, finde ich sie sehr attraktiv. Sie ist deutlich jünger als meine Mutter jetzt, hat sehr schöne Beine und überdies eine Ähnlichkeit mit meiner Freundin. Doch das Gefühl der Empörung, das Gefühl gegen sie ist stärker als ihre Anziehung. Schließlich liege ich mit meiner Mutter, die ihren Bademantel immer noch trägt, in der Wanne. Es ist alles chaotisch, es überstürzen sich die Ereignisse. Ich kämpfe mit ihr, drücke ihre Kehle zu und tauche sie unter. Ich will sie ersäufen. Aber ich erwache vorher."
Zu dem Traum sagt der Student: "Ich freue mich, diesem Sirenengesang widerstanden zu haben. Einzig bedenklich finde ich, daß meine Mutter Züge von meiner Freundin aufweist. Das heißt doch, daß ich auf sie immer noch viel zu viele Eigenschaften meiner Mutter projiziere. Das wird die Beziehung zerstören. Ich hoffe und wünsche, daß es auch ohne das geht, denn ich habe das Gefühl, das erste Mal eine Frau in meiner Freundin zu sehen, zu spüren, zu lieben."Literatur
1. Finkelhor, D., Hotaling, G., Lewis, I. A., Smith, C.: Sexual abuse in a national survey of adult men and women: prevalence characteristics and risk factors, Child Abuse and Neglect 14 (1990), S. 19-28
2. Deutsches Ärzteblatt, 21 (1987), S. 1473-1477
3. Freud, S.: Über die weibliche Sexualität (1931) GW V, Studienausgabe, S. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. (1972), S. 282
4. Fegert, J. M.: Sexueller Mißbrauch von Kindern, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 36 (1987), S. 164-170
5. Heigl-Evers, A., Kruse, J.: Frühkindliche gewalttätige und sexuelle Traumatisierungen, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 40 (1991), S. 122-128
6. Vugt, G., Besems, Th.: Psychotherapie mit inzestbetroffenen Mädchen und Frauen, Acta Paedopsychiatrica 53 (1990), S. 318-338
7. Hirsch, M.: Realer Inzest, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo (1987), S. 7
Autor: Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann Der Artikel erschien in seiner Ursprungsfassung in dem Buch "Angst - Ursprung und Überwindung", Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 5. Aufl. (2005)
Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Zurück zur Startseite |