Wie schütze ich mein Kind vor Sucht?

Ursprung und Überwindung

 

Eltern tragen Verantwortung

Ich will Ihnen aufzeigen, worauf Sie bei der Erziehung Ihres Kindes achten können, damit es nicht süchtig wird. Gemeint ist auch das Kind in uns selbst – im Sinne der Transaktionsanalyse. Handlungsanweisungen zu erteilen, ist im seelischen Bereich schwierig, da seelische Strukturen komplex sind und unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt sind. Dennoch lohnt es, sich mit dem Thema Sucht bei der Erziehung des eigenen Kindes auseinanderzusetzen, da wir Verantwortung für unsere Kinder und das Kind in uns tragen.

Beispiele für Süchte:

  1. Alkoholsucht
  2. Medikamentensucht
  3. Drogensucht
  4. Zigarettensucht
  5. Eßsucht
  6. Magersucht
  7. Konsumsucht
  8. Spielsucht
  9. Sexualsucht
  10. Fernsehsucht
  11. Arbeitssucht
  12. Ehrsucht

Sucht bedeutete früher körperliche Krankheit. Noch heute sprechen wir von der Schwindsucht, der Gelbsucht oder der Fallsucht. Früher wollte man im Volksaberglauben die Sucht mit magischen Bannungsformeln von sich abhalten: "Fruchtbom, ik klag di, de suchten de plagt mi; de erste vagel, di öber min hus flüggt, de nimmt de swindsucht mit ünner sin flücht (3)." Sucht galt auch als Zeichen einer dämonischen Besessenheit, die gewaltsam von außen her in den Menschen eingedrungen ist (2). Aberglauben führt jedoch in die Irre. Beschwörungsformeln oder magische Riten reichen für die Heilung von Krankheit nur selten aus. Heute wissen wir, welche seelischen Ursachen Suchterkrankungen haben.

Faszination und Sucht

Süchtig kann alles machen, was einen fasziniert. Das Faszinierende verlockt dazu, es immer wieder aufzusuchen, da es in einen Zustand der glücklichen Erregung oder Versunkenheit versetzt. Wir nennen diesen Zustand auch narzißtischen Primärzustand. Die Sucht ist eine Suche nach der nährenden, liebenden, versorgenden und Ruhe spendenden Mutterbrust (5). Suchtverhalten ist eine fehlerhafte Überlebensstrategie. Es entspringt häufig einem verdrängten, unbearbeiteten Konflikt oder Komplex, der dazu führen kann, daß eine Ersatzlösung – die Sucht – gesucht wird. Das Suchtmittel wird genommen, um sich zu betäuben, sich zu entspannen und Probleme nicht zu erkennen. Es dient dazu, den Zustand der Konfliktangst, der Unruhe und andere unangenehme Gefühle zu verringern. Derjenige, der süchtig ist, lebt nicht in seiner Mitte. Er ist besessen von dem Drang, sich vom Eigentlichen – seinem Selbst - abzulenken. Er ist ein Getriebener, ein Unfreier. Er wirkt hastig, nervös, unruhig und hektisch, solange er sich seinen Suchtstoff nicht gerade einverleibt.

Ich habe jemand bestohlen

Sucht führt zur Zerstörung des sozialen Umfeldes, des Selbst und der inneren und äußeren Strukturen eines Menschen. Ein Zimmermann berichtet im Erstgespräch: "Mein Problem ist es, daß ich leidenschaftlich an Spielautomaten spiele. Das geht schon seit mehreren Jahren. Ich habe bis zum 3.2.98 gespielt. Dann ist etwas passiert, was ich mir selbst nicht zugetraut habe. Ich habe jemanden bestohlen. Es waren 1750 DM. Ich habe die Scheckkarte erschlichen und bin zur Bank gegangen. Als ich das Geld in den Händen hielt, habe ich mich so erschrocken, daß ich mich selbst angezeigt habe. Ich spiele seit 6 Jahren. Es war ganz zufällig. Ich habe Angst, daß ich die Spielsucht nicht mehr unter Kontrolle bekomme und ich eine höhere Strafe erhalte, als ich es momentan vertragen könnte. Ich weiß nicht, warum ich spiele. Es ist eine Besessenheit. Manchmal habe ich auch Angst. Wenn die Angst einen festhält, möchte man laufen, irgendwohin, aber die Beine sind zu schwer, als würde sich die Angst dort reingelegt haben. Der sonst so einfache Schritt wird zur Qual und wenige Meter werden zur unüberwindbaren Strecke. Ich habe auch Angst vor Spinnen.

Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Wir hatten uns auseinandergelebt, weil ich zuviel auf See war. Meine Frau war sehr familiär. Eine Freundin habe ich nicht, Freunde auch nicht. Meine Mutter hat alle meine Freunde abgelehnt. Mein Vater starb, als ich 6 Jahre alt war."

Bei dem Satzergänzungstest schreibt der Zimmermann: "Meine größten Schwächen sind: Marzipan und Kino." Die Antwort zeigt, daß sich der Patient von seiner Kindheit nicht gelöst hat und in einer Scheinwelt lebt. Er spürt eine lähmende Angst. Außerdem hat er eine Spinnenphobie. Die Spielsucht hat die Zerstörung seiner Persönlichkeit zum Ziel. Woher kommt die Kraft der Selbstzerstörung, die ihn ergreift? Er schreibt: Die meisten Mütter "übertreiben es mit ihrer Erziehung." Diese Antwort ist in ähnlicher Form auch bei anderen Suchtpatienten zu lesen: "Die meisten Mütter sind Glucken. Die meisten Mütter sorgen sich zuviel um ihre Kinder." Wie so oft, hat der Vater des Zimmermannes in seiner Kindheit weitgehend gefehlt, so daß er ihm als positive Identifikationsfigur nicht zur Verfügung stand.

Abstoßung und Bindung

Die emotionalen Grundlagen zur Suchtentwicklung entstehen in der Kindheit und Jugend:

  1. Emotionale Kälte und Interessenlosigkeit einem Kind gegenüber. Daraus resultieren Strukturschwäche und partielle, drohende Verwahrlosung. Später erfolgt eine Suche nach einer Ersatzmutter oder einer Ersatzdroge.
  2. Übermäßige Bindung erfolgt durch
    1. strenge Erziehung
    2. Störung der Ich-Funktionen
    3. Einflußnahme auf der Gefühlsebene mittels:
      • Angst
      • Verwöhnung
      • Sexualität
      • Schuldgefühle
      • Krankheit
      • Trauer
      • Unselbständigkeit

Zu enge Bindung an das Elternhaus ist der Auslöser für eine Vielzahl von seelischen und körperlichen Symptomen wie Depression, Angstneurose, Suizid, Scheidung oder Sucht (1).

Erziehung zur Selbständigkeit

Eine Erziehung, die aus mangelnder Zuwendung oder fehlender Grenzsetzung besteht, kann genau so großen Schaden setzen, wie eine Erziehung mit zu starker Bindung an die Eltern und Grenzziehung. Ein Kind muß lernen, selbständig zu werden. "Ich mach das schon. Mach schnell, wir müssen los. Ich mach Dir die Schnürsenkel zu oder die Knöpfe vom Mantel", diese Sätze bei einem Dreijährigen machen ihn auf Dauer – gepaart mit anderen Infantilisierungen - unselbständig. Auch eine Erziehung zur übertriebenen Sauberkeit bedeutet Grenzüberschreitung. Wir müssen unsere Kinder vor übermäßiger Aggression bewahren. Ihrer Neigung, im infantilen Verhalten stecken zu bleiben, ist Einhalt zu gebieten.

Suchtverhalten von Kindern

Kinder neigen zur Fernsehsucht, Computersucht oder zur Naschsucht. Sie sind auf Grund ihrer fehlenden Reife nicht fähig, sich selber Grenzen gegen die sie faszinierenden Medien oder Süßstoffe zu setzen. Eltern müssen diese Schutzfunktion übernehmen, damit ihre Kinder wieder zu ihrer inneren Ruhe, zu einem offenen Leben und einer gesunden Lebensweise finden.

Das Kind als Ersatzpartner

Einsamkeit der Mutter oder des Vaters führt leicht dazu, daß das Kind als Ersatzpartner zu dienen hat. Eine erfüllte Ehe, die nicht frei ist von Streit, aber in der beide Partner Kontakt zueinander halten und ihre Probleme miteinander lösen, ist eine gute Voraussetzung dafür, daß ein Kind den Weg in die Selbständigkeit findet. Aber ein Mittelmaß an Liebe und an Erziehung, an Gewährenlassen und Grenzensetzen, das Offensein für das eigene Unbewußte und die innere Auseinandersetzung mit sich und dem Werden des Kindes schützen das Kind vor Einseitigkeiten, emotionaler Ausbeutung und damit vor Sucht. Kinder brauchen Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Struktur. Der Weg des Kindes von der Geburt an ist der Weg in seine Selbständigkeit. Wir Eltern müssen ihm diesen Weg ermöglichen, indem wir wissende Liebe einbringen.

Das Erzeugen von Schuldgefühlen

Häufig dient Krankheit dazu, in einem Kind Schuldgefühle zu erzeugen. "Immer wenn meine Mutter einen Herzanfall hatte, tat ich das, was sie wollte. Ich war dann besonders lieb." Ferenczi nennt die Manipulation durch Krankheit und das Erzeugen von Schuldgefühlen Terrorismus des Leidens (4). Der Terror besteht darin, daß ein Kind in seiner Identität nicht so genommen wird, wie es eigentlich sein möchte. Zu den elterlichen Leiden, die eine enorme Bindung bewirken, zählen Krankheiten wie Alkoholismus, chronische Krankheiten oder auch Migräne. Kinder fühlen sich schnell mitschuldig an der Krankheit der Eltern und haben außerdem eine angeborene Neigung, Hilfestellung zu geben, obwohl sie als Kinder hierzu völlig überfordert sind.

Eltern als Vorbilder

Wir sollten Vorbilder sein, selber kein Suchtverhalten zeigen, in der Lage sein, uns offen abzugrenzen und Liebe zu geben, wo Kinder diese brauchen. Wir sollten uns Zeit nehmen für unsere Kinder, ihre Sorgen sich anhören, die sie in der Schule und mit ihren Spielkameraden haben. Wichtig hierfür ist ein abendliches Ritual, das Vater oder Mutter mit dem Kind ausüben sollte. "Hast Du etwas Besonderes erlebt heute?" Diese Fragen sollten nicht bohrend sein, sondern offen. "Hast Du Kummer, hast Du Sorgen" oder "Na, was ist denn, ich sehe es Dir doch am Gesicht an". Man sollte dem Kind auch Zeit lassen, sich zu öffnen. Das Kind braucht die Gewißheit, daß es bei seinen Eltern gut aufgehoben ist und sie sich ihrer Sorgen annehmen, aber nicht ausforschend oder klammernd-grenzüberschreitend.

Aufklärung ist wichtig

Sie schützen ihr Kind vor Sucht, indem sie sich nicht vor das Kind stellen und sagen: "Ich schütze Dich vor dieser bösen Welt, die Welt steckt voller Gefahren." Auch frühzeitige Aufklärung über Suchtgefahren ist sinnvoll. Ein Kind soll wissen, daß Alkohol nicht für Kinder und Jugendliche geeignet ist, daß Haschisch und harte Drogen in seiner Schule angeboten werden. Es muß in der Lage sein, diese Angebote auszuschlagen. Auch Strafen und Konsequenz schützen vor Sucht. Es braucht einen sicheren Halt in der Familie, der durch einen Halt in der Religion verstärkt wird. Süchtiges Verhalten hat viel mit fehlendem Bewußtsein zu tun. Das Verleugnen in Form von Nicht-Wissen-Wollen oder spöttischer Abwehr ist kennzeichnend für viele Süchtige. Sie wollen und dürfen nicht ihr Problem erkennen, da sie sich ja sonst von den elterlichen Objekten befreien würden und ein selbstbestimmtes Leben führen würden.

Eine Studentin mit Eßsucht

Eine 20jährige Studentin, die an Bulimie erkrankt ist, erzählt im Erstgespräch: "Ich heule immer. Es ist seit einer Woche ganz schlimm. Es ist bei jeder Gelegenheit. Ich habe keine Lust, mehr etwas zu machen. Ich kann mich zu gar nichts aufraffen. Ich kenne keinen Grund dafür. Mir ist alles egal. Seit einem Jahr habe ich einen Freund. Wir sehen uns nur an den Wochenenden, weil er weit weg wohnt. Ich habe Eßprobleme. Mit 15 Jahren hat das angefangen. Ich möchte gesund werden. Manchmal trinke ich auch Alkohol. In letzter Zeit habe ich auch viel geraucht. Ich bin zwanghaft besessen von Eßgedanken. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Anschließend nach dem Anfall erbreche ich. Mit meinem Freund habe ich oft das Gefühl, ich verstelle mich, wenn ich meinen Freund sehe. Ich fühle mich so oft schmutzig für Sex. Ich fahre alle 2 Wochen nach Hause nach Rostock. Mein Vater ist ein stiller Alkoholiker. Telefonieren tue ich einmal in der Woche nach Hause. Immer wenn ich Zuhause bin, sind die Eßprobleme am schlimmsten. Ich fühle mich hilflos und habe keine Kraft mehr, mich weiter zu bemühen."

Ich war immer die Kleine

Über ihre Kindheit berichtet sie: "Zuhause war ich immer die Kleine, die Liebe, die Brave, die alles richtig und gut gemacht hat. Alle mochten mich sehr. Ich habe es immer geschafft, daß alle mich mögen. Meine Mutter ist feinfühlig, liebevoll, aber auch aufbrausend. Sie will es allen recht machen. Mein Vater ist ruhig und gelassen. Als ich in der Pubertät oft traurig war, sagten mir meine Eltern: 'Iß Schokolade'. Ich wog dann über 90 kg. Mir wurde auch gesagt, ich soll nicht so viel heulen und mich zusammenreißen. Meine Probleme dahinter haben meine Eltern nicht erkannt. Ich sollte und sollte und sollte immer. Nur selbständig durfte ich nicht werden. Ich habe immer so viel Falsches sollen. Nun kann auf niemanden mehr hören, denn ich denke, daß ich selbst am besten wissen muß, was gut für mich ist, obwohl ich auch gern jemanden hätte, der mir sagen könnte, was ich brauche. Ich fühle mich oft hilflos und weiß nicht, was gut für mich ist. Wozu ich Lust habe und was ich brauche. Ich habe zu wenig Gespür dafür und dazu noch zu wenig Selbstbewußtsein. Ich richte mich zu gern nach den anderen. So habe ich keine Verantwortung."

Bei der Satzergänzung: Meine Mutter und ich... fügt sie hinzu: "lieben uns". In ihrem Vater sieht sie "einen tollen Mann". Sie gibt auch an: "Ich habe meine Mutter gern, aber sie saugt mich auf". Weiter schreibt sie: "Ich glaube, die meisten Mütter sind besorgt und lassen Kinder nicht erwachsen werden". Hiermit hat sie das zentrale Thema ihrer Suchtentstehung genannt. Wir müssen als Eltern die Signale unseres Kindes ernst nehmen, die es aussendet, wenn es unbewältigte Probleme mit sich, mit anderen oder mit den Eltern hat. Besonders im Beginn der Pubertät, wenn das Kind zu sich selber finden will, sich aber an die Eltern gebunden fühlt, kann die mangelnde Ablösung von den Eltern Suchtverhalten verursachen.

Traum von ihrer besitzergreifenden Mutter

Sie berichtet in der Therapie einen Traum: "Ich liege in meinem Zimmer und habe Besuch von meiner ehemaligen Freundin und ihrer Mutter aus dem Dorf, in dem ich wohnte. Mein Zimmer ist schrecklich unordentlich. Die zwei füllen fast das ganze Zimmer aus und sehen sich ständig um. Ich liege im Bett und denke, daß es doch mein Zimmer ist und daß es so dreckig sein kann, wie ich es möchte. Trotzdem habe ich ein etwas schlechtes Gefühl dabei." Der Traum offenbart ihre Unfähigkeit, sich gegenüber der kontrollierenden Mutter abzugrenzen. Schuldgefühle hindern sie daran, über sich selbst zu bestimmen, aber auch ein aktives Leben zu beginnen, in ihrer Strukturlosigkeit aufzuräumen. Bei dieser Deutung des Traumes ist sie die Mutter selbst, die aufräumt und für Ordnung in ihrer Seele sorgen will.

Sucht ist Flucht

Lassen Sie Ihre Kinder erwachsen werden. Der Weg zum Erwachsensein ist dornig und schwierig. Er wird erschwert durch Eltern, welche den Willen ihrer Kinder und die Selbständigkeit nicht achten oder ihnen zu wenig die Grenzen setzen. Sucht ist eine Flucht vor den Konflikten, der Selbstwerdung, des Sich-Lösens von der Kindheit und Jugend. Wir sollten offen mit diesen Konflikten umgehen, damit wir oder unsere Kinder suchtfrei leben können.

Literatur

  1. Flöttmann, H. B.: Angst - Ursprung und Überwindung, Kohlhammer-Verlag Stuttgart (1993), 3. Aufl.
  2. Grimm, J., Grimm, W.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, Deutscher Taschenbuch Verlag München (1984), S. 861
  3. siehe 2, S. 862
  4. Ferenczi, S.: Bausteine zur Psychoanalyse, Arbeiten aus den Jahren 1908 – 1933, Bd. III, Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien (1984), 3. Aufl., S. 523
  5. Matussek, P.: Zwang und Sucht, Der Nervenarzt 10 (1959), S. 452-456

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