Sprache und Identität - Psychologische Gedanken zur "Rechtschreibreform"

Das Problem der "Rechtschreibreform" ist vielschichtig. Finanzielle, politische, kulturelle und psychologische Aspekte vermischen sich. Die staatlich verordnete Schreibweise spricht auch ganz persönliche Seiten in uns an, die in der bisherigen Auseinandersetzung weniger erwähnt wurden. Wie sehr diese "Reform" viele Menschen in ihrem Innersten berührt, zeigt der dauerhafte Widerstand gegen sie.

Spracherziehung in der Kindheit

Sprache ist etwas Urtümliches, etwas, um das sich jeder Mensch jahrelang bemüht. Dies gilt für das gesprochene und geschriebene Wort. Sprache hat mit Prägung zu tun, mit Pauken, mit Demütigung durch Lehrer, mit Besserwisserei, mit Selbstwertgefühl, mit dem Gefühl des Könnens, Schaffens und des Bewältigens. Ein Kind ist stolz darauf, wenn es Worte richtig ausspricht und schreibt. Wer die Sprache in Grammatik und Schrift beherrscht, zeigt, daß er sich den kulturellen Anforderungen stellt und sie bewältigen kann.

Auswirkungen der "Reform" auf den Einzelnen

Viele Deutsche lehnen den sprachlichen Eingriff in ihre kulturelle und persönliche Identität ab, während sich die meisten Zeitschriften wie von selbst gleichgeschaltet der Neurechtschreibung bedienen. Diese führt bei vielen zu einem Stocken, zu einem täglichen Ärgernis. Eine "Rechtschreibreform" in dem Ausmaß, wie es allein die Zurücknahme des ß im Schriftbild bewirkt, ist erheblich und trifft die Identität eines jeden sprachbewußten Menschen. Die Regel, zusammengesetzte Eigenschaftswörter auseinanderzu-schreiben, ist sinnverwirrend: "Warmer und feuchter Winter sorgte für Insekten armes Jahr" (Kieler Nachrichten vom 6.9.00). Der Leser zögert: "Was ist hier eigentlich gemeint?" Dann ärgert er sich über den Zeitverlust und den Schreibunsinn. Das Auseinanderschreiben von Adjektiven führt nicht zu einem leichteren oder schnelleren Lesen, sondern zu dessen Gegenteil: zurück behaltene Miete (Welt vom 9.9.2000). Auch hier hält der Leser inne und überlegt, wohin das Wort zurück gedanklich zu stellen ist. Allein diese Beispiele zeigen, daß hier Gedanken loser Unsinn entstanden ist.

Sprache und auch die Rechtschreibung haben mit Identität zu tun, mit dem Ausdruck der Seele und dem Gefühl dazuzugehören. Die Ablehnung der "Reform" entspringt dem Bewußtsein, schreiben und lesen zu müssen, was einem zuwider ist. Die Sprache ist kein Spielball, sondern sie gehört zum Wesen jedes einzelnen und der Kultur. In meinem großen Bekanntenkreis gibt es vor allem viele junge Menschen, welche die "Reform" mißachten, weil sie diese unsinnig finden, von oben diktiert, künstlich, nicht von unten gewachsen und überflüssig.

Schriftsteller zählen zu den sensiblen Menschen. Sie greifen Probleme auf, haben ein offenes Ohr für künftige Entwicklungen und schauen den Herrschenden auf die Finger. Ihr Instrument dazu, die Schriftsprache, ist von einem Tag zum anderen verändert und verunstaltet worden. Zu Recht fühlen sich viele Schriftsteller hier gegängelt, der Vergangenheit zugehörig und vor allem in ihrem Selbst - ihrem Handwerkszeug - getroffen. Das Perfide dieses staatlich verord-neten Modellwechsels liegt darin, daß sich der interessierte Bürger gegen den bürokratischen Zugriff nicht wehren kann. Er ist gezwungen, die staatlich verordnete Schreibweise durch den täglichen Gebrauch wie ein Allergen zu inhalieren.

Folgen für unsere Kinder

Mit der bisherigen literarischen Kultur wird gebrochen: Genauso widerwillig, unmutig und abgestoßen wie wir heute durch die veränderte Schreibweise sind, werden sich eines Tages unsere Kinder abwenden von den Büchern ihrer Väter und Vorväter. Sollen Goethe, Herder, Kant, Nietzsche, Schopenhauer, Eichendorff und moderne Autoren plötzlich in einem fal-schen Sprachgewand erscheinen, wenn sie nicht nachgebessert werden?

Persönliche und nationale Identität

Die Psychologie versteht unter Identität die Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinem Wesenskern. Die kulturelle Identität betrifft das Selbstverständnis des Einzelnen, einer Gruppe oder einer Nation. Das Schriftbild und die Grammatik stiften wie die Sprache das Gefühl von Gemeinsamkeit oder Abgrenzung. Sprache und Rechtschreibung sind Ausdruck unseres Denkens, unserer Kultur und vor allem unseres Selbst. Wir freuen uns an einer geschliffenen Ausdrucksweise in Inhalt und Form. Wörter sind auch Bilder, die wir in uns aufgenommen haben, die uns etwas bedeuten, die Gefühle in uns anklingen lassen oder an Gewohntes erinnern.

Es liegt in der Geschichte der deutschen Nation begründet, daß sich diese in ihrer nationalen Identität unsicher und schuldbeladen fühlt. Während Hitler das Nationale ins Krankhafte übersteigert und mit Todessehnsucht verbunden hatte, wird aus Schuldgefühlen heraus, ihm gefolgt zu sein, die nationale Identität von den meisten Deutschen als belastet erlebt. Das Nationale ist mit Scham verbunden, Zerstörung und Krieg, Selbstherrlichkeit, Überheblichkeit und Rassenwahn. Wie wenig selbstbewußt die Bundesdeutschen sind, zeigen die Hinnahme des Euros und der Umgang mit den Nationalfarben, die andere Länder viel freudiger und selbstbewußter zeigen. Die "Rechtschreibreform" ist eine gravierende Folge des gestörten Selbstwertgefühls vieler Deutscher, die nunmehr ihrer sprachlichen Identität beraubt werden. Sie verlieren ein wesent-liches Bindeglied ihrer Nationalität, nämlich die sprachliche Einheit.

Scham- und Schuldgefühle

Daß der Protest nicht lauter ist, hat auch mit Schuldgefühlen und Scham zu tun. Diese verhin-dern, daß sich die Menschen des weitreichenden Eingriffs in ihre Identität bewußt werden. Über Identitätsprobleme nachzudenken, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, zu sich selbst zu finden, geht mit Abwehrmechanismen wie Verleugnung oder Verdrängung einher. Man weicht den Schikanen der Kultusbürokratie oder der Vorgesetzten aus, indem man gegen den eigenen Willen eine ungeliebte Schreibweise anwendet, anstatt zur bewährten zu stehen.

Motive der Sprachverwirrer

Anpassungswillige und übereilfertige Bürger führen das Regelwerk aus, ihre gewachsene Sprachidentität verleugnend. Einige mögen es schick finden, ein neues Sprachkleid vorzuzeigen. Erwachsene, die früher Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hatten, sind nach meiner Erfahrung nicht selten Anhänger der neuen Schreibweise. Sie glauben, hier Vereinfachungen vorzufinden und sich weniger mit der deutschen Rechtschreibung herumplagen zu müssen. Jetzt endlich spüren sie Genugtuung über in der Schulzeit erlittene Schmach, indem sie heute, allmächtiger als die Lehrer damals, in die Sprache aller Deutschen eingreifen. Andere fühlen sich von dem niedrigen Rechtschreibniveau an den Schulen motiviert, die Schreibregeln an Faule oder Fernseh- und Computergeschädigte anzugleichen.

Einer Schreibschwäche mit Regelveränderungen zu begegnen, ist der eigentliche Trugschluß der Reformer. Schopenhauer würde sie Sprachverwirrer nennen: "Denn darüber täusche man sich nicht, daß zu allen Zeiten, auf dem ganzen Erdenrunde und in allen Verhältnissen eine von der Natur selbst angezettelte Verschwörung aller mittelmäßigen, schlechten und dummen Köpfe gegen Geist und Verstand existiert"( Schopenhauer, A.: Kopfverderber. Über die Universitäts-Philosophie und ihre Professoren. Hrsg.: Böhmer, O. A., Insel Verlag, Frankfurt a. M. (1982) ).

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