Verrat in Politik und Familie
Treue und Loyalität zu Machtzwecken mißbraucht
Der Verrat ist eines der großen Motive in der Weltliteratur. Der Verrat begegnet uns z.B. im Nibelungenlied, bei Shakespeare im Julius Cäsar, bei Schillers Räubern und in vielen Werken, die den Liebesverrat zum Thema haben.
Zur Begriffswelt des Verrats gehören: Macht, Rache, Bindung, Treue, Linientreue und Treuebruch. Auch Aufbegehren, Revolution, Verlassen, Vertrauen und Mißtrauen stehen dem Verrat nahe. Verraten heißt, einem Dritten ein Geheimnis mitteilen,ein Ideal preisgeben oder Vertrauen mißbrauchen. Der Verräter erlangt Vorteile in Form von Geld, Macht oder Gerechtigkeit. Was Verrat ist, wird definiert von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, die wiederum abhängig sind vom Entwicklungsstand einer Kultur.
In der Praxis eines Psychiaters haben wir es nicht selten mit den Folgen des Verrätertums, dem Gefühl des Verratenseins, der Preisgabe von Geheimnissen und dem Bruch von Treueverhältnissen zu tun. Dem Verrat begegnen wir auf verschiedenen Ebenen:
1. bei Opfern und Tätern des Verrates in Politik und Wirtschaft
2. bei allzu starker Bindung an das Elternhaus
3. beim Liebesverrat
Verrat in der Politik: Der Verräter kann "ewigen" Ruhm erlangen
Im frühen Mittelalter wurde das Aufbegehren gegen den Lehnsherrn als Verrat durch Vierteilung oder durch Ertränken geahndet. Das heutige Strafrecht kennt ein allgemeines Verbrechen des Verrats nicht mehr, wohl aber sind Hoch- und Landesverrat mit schwerer Strafe bedroht. Der Verrat wird von den meisten als etwas Schlimmes, Verbrecherisches und moralisch Verwerfliches empfunden.
Verrat - Dieses Wort setzt beim Verräter wie beim Verratenen Gefühle frei: der Verratene hat Angst, Nachteile zu erleiden oder gar getötet zu werden. Er fühlt sich ohnmächtig oder er ruft nach Rache. Beim Verräter spielen Macht- und Triumphgefühle,auch Allmachtsgefühle eine Rolle. Der Verräter kann "ewigen" Weltruhm erlangen, wie es z. B. Brutus und Judas gelungen ist.
Verrat ist ein Kennzeichen autoritärer, totalitärer Staaten, die die Identität und die Freiheit des Einzelnen und der Gesamtheit nicht achten. Diktatoren, auch ideologisierte Gruppen versuchen, ihre Mitglieder über das Prinzip der Treue und Loyalität extrem an sich zu binden. Sie setzen dabei Menschenrechte außer Kraft und mißbrauchen den Begriff der Treue aus Machtzwecken, um "die gemeinsame, hehre Sache" nach vorne zu führen.
Die Definition von Verrat dient der Unterdrückung von Selbständigkeitsbestrebungen. Verrat verunsichert, verschleiert und hält Machtverhältnisse aufrecht. Der Verrat ist ein moralischer Begriff, der um so mehr an Bedeutung gewinnt, je stärker ein Gesellschaftssystem auf menschenverachtenden und undemokratischen Formen basiert.
In einem totalitären Regime, das sich gegen demokratische Verhältnisse abschottet und wehrt, kommt es gezwungenermaßen auf beiden Seiten zu Verrätereien: Während der eine durch Verrat für demokratische Verhältnisse sorgen will, trägt der andere durch sein Denunziantentum paradoxerweise gleichfalls zur Demokratisierung bei, indem er die Verhältnisse so sehr verschlechtert, daß eine Revolution unumgänglich wird. So ist es mit dem totalitären Staat der DDR und in diesem Jahr mit den Putschisten in der Sowjetunion geschehen.
Der Verräter ist ein Mensch, der zwischen zwei Wertesystemen, Machtblöcken oder anderen Institutionen hin und her wechselt und für einen Ausgleich zwischen diesen sorgt. Der Verräter hatte wahrscheinlich weder in der Kindheit noch im späteren Leben die Möglichkeit, sich offen und ehrlich mit dem Machtüberlegenen auseinanderzusetzen, ihm blieb als vertrautes Machtmittel das Denunziantentum oder der Verrat.
Eine große, tragische Figur eines Verrates war der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel gewesen, der nicht nur Opfer seiner narzißtischen Größenphantasien und seiner Machtbesessenheit geworden ist, sondern auch durch einen Verräter scheiterte, der ihm einstmals ein treuer Mitarbeiter war. Es bedurfte erst des Verrates, um die Machenschaften von Herrn Barschel aufzudecken.
Das übergeordnete Ziel des Verrates ist es, menschlichere Ver-hältnisse einzurichten. Der Verräter erntet Verachtung oder Bewunderung, je nachdem, welche Seite er verrät. So wird auch der Verrat an Jesus Christus durch Judas verstanden, der als notwendige Figur Christus zu seiner Erlösergestalt verholfen hat.
Verrat in Familien: Oft Lösung einer inzestuös gefärbten Beziehung
Viele Patienten, die sich wegen einer Angstneurose, wegen Sexualstörungen oder Partnerschaftsschwierigkeiten in Behandlung begeben, haben sich von ihren allmächtigen, verschlingenden, anklammernden und bindenden Elternfiguren nicht lösen können. Sie schaffen es nicht, sich von dem Wertesystem ihrer Familie zu lösen, ohne massive Schuldgefühle und eine Fülle von psychosomatischen Symptomen zu erleiden. Die Loslösung vom Elternhaus, insbesondere vom gegengeschlechtlichen Elternteil kommt einem Überschreiten eines mächtigen Tabus gleich, dessen Verletzung Verrat bedeuten kann. Der Abfall des Sohnes vom Vater, die damit verbundenen Kämpfe, die Loslösung von einer inzestuös gefärbten Mutter-Sohnbeziehung gehen mit Schuldgefühlen, Selbstbestrafungen und Suizidversuchen einher. Das unbewußte Motiv lautet: Wenn ich meine Eltern verlasse und meine Loyalität zu ihnen aufgebe, kommt das einem Verrat gleich, der bestraft werden muß.
Ein 50jähriger Dozent an der Fachhochschule erwiderte auf meine Aufforderung, den Kontakt zu seiner Mutter abzubrechen: "Das kann man doch nicht tun. Das ist moralisch verwerflich!" Während seines Studiums hatte der Musikdozent täglich Briefe von seiner Mutter erhalten, die bis heute jeden Tag mit ihrem Sohn telefoniert. Er leidet seit 20 Jahren an einer Ejaculatio praecox, an einer minderschweren Form des Alkoholismus und Tablettenkonsums, seit 1/2 Jahr an einer Agoraphobie. Er hatte sein Selbst verraten,seine männliche Identität verleugnet. Er spielte den "ewigen Jüngling", indem er sich frech und jungenhaft ungezogen verhielt.
Viele angstneurotische Familien verstehen sich als eine Familienfestung oder Burg, deren Angehörige und Geheimnisse nicht verraten werden dürfen. "Wir haben ein Geheimnis miteinander", dieser Satz ist einer der Wege, um ein Kind an sich zu binden, um Abhängigkeitsverhältnisse und Schuldgefühle zu schaffen.Beim sexuellen Mißbrauch spielt die Verheimlichung der Tat eine wesentliche Rolle. Ein Kind, das Opfer einer Inzesttat geworden ist, wird z. B. mit folgenden Worten zum Schweigen gebracht: "Wir haben jetzt ein Geheimnis miteinander. Du darfst niemals darüber sprechen. Sonst geschieht etwas Furchtbares. Niemals darfst du uns verraten." Dem Kind werden Schuldgefühle eingeflößt, es wird zum Schweigen verdammt, die Loslösung von dem Täter wird durch das Motiv des Verrates und des Geheimbundes erschwert.
Eine harmlosere Form des Verrates finden wir bei Kindern, die gerne "petzen".Sie versuchen hiermit, sich gegenüber einer Machtfigur einen Vorteil zu verschaffen und sich bei ihr beliebt zu machen. "Petra hat uns verpetzt". Diesen geringschätzenden Ausdruck kennen wir alle aus der eigenen Schul- und Kinderzeit. Eltern, die derartige Verrätereien gutheißen und sich des gegenseitigen Ausspielens der Kinder bedienen, fördern unberechenbares, infantiles und unloyales Verhalten.
Psychotherapie und Verrat: Familienmythos Treue verhindert Offenheit
Es gibt immer wieder Patienten, die für eine Gruppentherapie nicht zu motivieren sind. Sie sind der Meinung, daß sie sich nicht öffnen und sie über ihre intimsten Dinge nicht sprechen können. Hinter diesen Rationalisierungen steht oft der Familienmythos: "Unsere Familienmitglieder sind einander treu und verraten sich nicht gegenseitig." Daß die Konflikte vieler Menschen sehr ähnlich sind und daß wir eigentlich keine Geheimnisse voreinander haben, das glauben und wissen nur wenige Menschen. Das Bestreben des Menschen, seine Familiengeheimnisse nicht preiszugeben,seine Schwächen zu verbergen, zu ihnen nicht zu stehen und nur den äußerlich Starken herauszukehren,führt zu Maskeraden und Geheimnissen. Je mehr wir uns dem Bereich des Unbewußten öffnen, desto eher sind wir bereit, scheinbare Geheimnisse preiszugeben und offen miteinander zu sprechen.
Verrat in der Liebe: Streben nach dem allumfassenden Glück
Menschen, die mit einem Treuebruch in ihrer Ehe nicht fertigwerden und unter depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen, innerer Zerrissenheit und unter einem schlechten Gewissen leiden, suchen ärztliche Hilfe. Sie spüren den schmerzhaften Bruch in der partnerschaftlichen Beziehung, den Vertrauensbruch, den Bruch in ihrer Lebenslinie. Manche leiden auch unter dem Suchtartigen ihrer Treulosigkeit. Der Verrat in der Liebe wird begangen,weil die Liebenden es nicht geschafft haben, sich von ihren Elternbildern zu lösen und sie den Weg zueinander nicht gefunden haben.
In den psychotherapeutischen Gesprächen wird es um die infantilen Fixierungen an Vater oder Mutter gehen, die ein Erwachsensein des Patienten nicht zugelassen haben. Die Tränen, die fast immer in diesen Therapiesitzungen kullern, sind Tränen des Abschieds von der Kindheit. Die Patienten lösen sich von den kindlichen Phantasien und von dem Streben nach allumfassendem Glück, das im Ehebruch gesucht wird. Die Sehnsuchtsbestrebungen sollen aufgegeben werden mit dem Ziel, einen Menschen zu lieben. Der Liebesverrat kann die Beziehung zum verratenen Partner auf eine höhere Ebene stellen. Der Verrat als Treuebruch in der Liebe übt eine erzieherische Funktion aus: Regressive Wünsche wandeln sich unter der Qual des Ehebruches zu einer reifen Liebe in Treue.
Erschienen in der Zeitschrift: Therapiewoche 41, 50 (1991)
Verrat. WDR Sonntagsfragen am 21.2.2010
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