Psychotherapie? Ja. Und welche?

Ursprung und Überwindung

 

Erfahrungsbericht eines Psychiaters

Zusammenfassung:

Der Autor gibt einen persönlichen Erfahrungsbericht über die verschiedenen Psychotherapieformen. Die wissenschaftliche Psychotherapie wird gegenüber den unseriösen Angeboten des Psycho-Marktes abgegrenzt.

Summary:

The author gives a personal report on the different psychotherapy methods. The scientific psychotherapy is opposed to the unserious offers of the psycho-market.

Schlüsselwörter:

Psychotherapiemethoden, Psycho-Szene, New Age, Persönlichkeit des Therapeuten

 

Was ist Psychotherapie?

Psychotherapie ist die Heilmethode, mit welcher der Mensch zu seinem eigentlichen Wesen, zu seinem Selbst finden kann. Psychotherapie soll dem Menschen dazu verhelfen, was er eigentlich will. Eine wissenschaftliche Psychotherapie zeichnet sich dadurch aus, daß sie über Theorien der gesunden Persönlichkeit, der Krankheitsentstehung, der Behandlungstechnik und des Therapieprozesses verfügt.

Psychotherapie ist die Anwendung von geplanten und strukturierten Behandlungsverfahren. Sie heilt oder hindert seelische und psychosomatische Symptome. Psychotherapie zielt auf die Bewußtwerdung verborgener oder verdrängter Persönlichkeitsanteile. In der Psychotherapie werden verdrängte Konflikte bewußt gemacht und aufgearbeitet. Neue Verhaltensweisen werden erlernt. Der Patient findet neue Wege der Konfliktlösungen und der Bewältigung von Streßsituationen.

 

Psychotherapie und New Age

Die Psychotherapie hat durch die Esoterik, die Ziele des New Age und durch die verwandten, angrenzenden alternativen Heilmethoden eine erhebliche Erweiterung ihrer wissenschaftlichen Zielsetzungen erfahren. Begriffe wie Selbstverwirklichung, Optimierung, Freisetzung von Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung, Selbsterfahrung und Ganzheit haben zu einem Markt von sogenannten Psychotherapieangeboten geführt, der nicht mehr überschaubar ist und der weitgehend als unseriös zu bezeichnen ist. Das Herausgefallensein aus dem Zustand der Unbewußtheit und der unzerstörten Beziehung zur Natur haben zu einer großen Unsicherheit bei den Menschen geführt, die sich dann leichtgläubig Heilsversprechungen, ordnenden Strukturen hingeben, die jedoch einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Viele Menschen sind auch offener geworden für die Hintergründe seelischen und körperlichen Leidens. Die mystisch-irrationale Seite, der Religionsersatz mancher Psychotherapierichtungen und die Heilsversprechungen sind aber sehr kritisch zu betrachten. Psychotherapie hat mit Religion nichts zu tun. Sie ist eine Heilmethode, eingebettet in die Medizin, sie kann bei bestimmten Krankheitsbildern helfen. Der Scharlatanerie sind mit dem Suchen nach Sinn in den nicht wissenschaftlichen Psychotherapieformen Tor und Tür geöffnet. Wir dürfen aber nicht verleugnen, daß im Menschen ein tiefes Bedürfnis nach mystischem Erleben, nach Einssein mit der Natur und dem Kosmos besteht; vor allem für den Menschen, der sich seine Sensibilität, Kritikfähigkeit und Leidensfähigkeit erhalten hat.

 

Der Psycho-Markt

Einige Methoden, die der Psycho-Markt zu bieten hat, seien genannt:

Die Sekten haben zunehmend psychologisches Wissen in ihr Angebot eingebaut, mit denen sie unsichere und suchende Menschen an sich binden und finanziell ausbeuten (1). Hier ist der "Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis" zu nennen, vor allem aber Scientology mit dem stark persönlichkeitsverändernden Beratungsverfahren (Auditing).

 

Psychotherapie und Heilsverkündung

Bei Freud habe ich in keiner seiner Schriften von einer Heilsverkündigung gelesen. Freud ist sich der Konflikthaftigkeit des menschlichen Wesens bewußt und der Grenzen der psychoanalytischen Behandlung. Sein Behandlungsziel ist, kurz zusammengefaßt: "Wo Es war, soll Ich werden". Der bewußte Umgang mit bislang unbewußten, inneren Prozessen und die Aussöhnung und das Aushalten mit der den Menschen eigenen Konflikthaftigkeit sind Ziel Freud' scher Psychotherapie.

Nicht alle Psychotherapieformen sind frei von falschen Heilsversprechen und dem Erwecken falscher Hoffnungen. Auch ich habe als ehemaliger 68er zunächst an die Vorstellung des edlen, konfliktfreien Menschen geglaubt, wie ihn die Kulturforscher Malinowski und Mead bei den Trobriandern und anderen Völkern der Südsee dargestellt haben (4). Auch ich glaubte den Vorstellungen und Schriften von Wilhelm Reich (6), der den orgastischen Menschen propagierte, frei von Blockierungen und Muskelverspannungen. Es dauerte einige Jahre und es erforderte einige Selbsterfahrung, bis ich erkannte, daß der Orgontherapeut Reich zwar eine großartige Pionierarbeit geleistet hat, aber in manchen seiner Vorstellungen doch zu ideologisch geprägt ist und sein Menschenbild zu sehr durch die Sexualität bestimmt ist. Dennoch schätze ich Reich in seiner Begeisterungsfähigkeit und in seinem intellektuellen Scharfsinn noch heute.

 

Wege zur Psychotherapie

Wonach entscheidet ein leidender Mensch, zu welchem Psychotherapeuten er sich begibt? Dies hängt im Wesentlichem von seinem Wissensstand und seiner Zu- oder Abneigung gegenüber der naturwissenschaftlichen Medizin ab. Er kann sich im Bekanntenkreis umsehen und fragen. Er kann auch in den Buchladen gehen und sich dort umschauen, welche Psychotherapieangebote es gibt.

 

Eigener Erfahrungsbericht

Als ich mit 14 Jahren begann, mich mit Psychologie zu beschäftigen, fand ich im Bücherschrank meines Vaters "Die Traumdeutung" von Freud(3). Ich las es innerhalb von 2 Wochen durch. Ich hatte kaum noch Ohren und Sinne für andere Dinge. Was hat mich an Freud so fasziniert? Meine Träume waren mit dem Verlassen der Kindheit und dem Aufbruch in das Erwachsenenalter konfliktreicher und bewegender geworden. Freud gab mir den Schlüssel, der zu einem Verständnis der mir fremden Traumsprache führte. Die Psychoanalyse mit ihrer Traumtheorie war richtungsweisend für mich geworden und sie ist es bis heute geblieben.

 

Die Zeit in Bethel

Bekanntschaft mit der somatisch ausgerichteten Medizin machte ich im Alter von 18 Jahren: Ich leistete meinen Wehrersatzdienst in Bethel ab. Eines Tages bekam ich furchtbare Magenschmerzen. Zuerst wurde ich geröntgt, dann kam ich ins Krankenhaus. Dort blieb ich einige Tage, wurde von Kopf bis Fuß untersucht. Eine junge Ärztin warf mir an den Kopf: "Sie sind ein Simulant!" Die Ärzte hatten bei den organischen Untersuchungen nichts herausgefunden. Ein Freund von mir besuchte mich im Krankenhaus und schenkte mir das Buch "Krankheit als Konflikt" von Alexander Mitscherlich (5). In der damaligen Zeit beschloß ich, Medizin zu studieren, mein Interesse für die psychosomatische Medizin war durch die Erfahrung im Krankenhaus Nebo gestärkt worden. Keiner der Ärzte hatte sich dafür interessiert, daß ich in einer Liebesaffäre steckte, die mir die Magenschmerzen bereitete.

 

Die Zeit in Kiel

Meine erste Psychotherapieerfahrung machte ich als Medizinstudent 1970 in einer analytisch orientierten Gruppentherapie. Die Gruppe und der Kontakt zu anderen Menschen mit ähnlichen Problemen gaben neue Perspektiven. Abgrenzung, Ablösung vom Elternhaus und Partnerschaftsprobleme standen im Vordergrund der Therapie, auch die Traumanalyse.

 

Die Zeit in München

Später lernte ich Psychoanalyse, Transaktionsanalyse, Gestalttherapie und Bioenergetik kennen. Das war meine Münchner Zeit. Hier und in der Klinik für Psychosomatik in Isny /Neutrauchburg habe ich meine heutigen therapeutischen Ansätze kennengelernt. Hier habe ich erfahren, daß das Wiedererleben frühkindlicher Situationen wenig hilfreich ist, um das Hier und Heute zu bewältigen. Hier habe ich erkannt, daß jede Einseitigkeit von Methoden zum Nachteil des Patienten gerät. Transaktionsanalyse habe ich in ihrer Einfachheit und Klarheit der Kommunikation als hilfreich erlebt, so lange sie nicht ausschließlich angewandt wurde. Die Verhaltenstherapie, das Einüben neuer Verhaltensweisen hat mir persönlich sehr geholfen. Meine gestalttherapeutische und psychoanalytische Weiterbildung stieß jedoch bald an Grenzen, nämlich dort, wo ich versuchte, meine eigenen Träume besser zu verstehen. Die Tiefe und der Reichtum dieser Träume wurden durch die nach Freud ausgerichtete Traumanalyse nicht ausreichend erfaßt. Ich fand mich persönlich bei Jung wieder. Der Reifungsprozeß spielt bei ihm die wesentliche Rolle, nicht die Sexualität, welche die Psychoanalyse so sehr in den Vordergrund stellte. Das tiefgreifende und komplexe Verständnis der Symbolik und der Traumsprache und damit die Einsicht in die eigene Entwicklung fand ich bei Jung wie bei keinem anderen. Die Jung'sche Tiefenpsychologie ist die Psychotherapie für Patienten im mittleren Lebensalter.

 

Mal- und Gestaltungstherapie

Jung spricht der Mal- und Gestaltungstherapie im Individuationsprozeß eine wesentliche Rolle zu. Noch heute erinnere ich mich gern an die Phase des Malens in der psychosomatischen Klinik Neutrauchburg. Der Ausdruck von Gefühlen auf dem Papier, die Freude im Umgang mit den Fingerfarben und das Gespräch mit dem Gestaltungstherapeuten haben meine innere Entwicklung gefördert.

Das Malen mit Schmierfarben bereitete mir einerseits Lust, andererseits entdeckte ich die Möglichkeit, meine Stimmungen, Träume und Phantasien in Farbe und Form auszudrücken.

 

Primärtherapie

Meine Erfahrungen in einer analytisch orientierten Primärtherapie waren zwar interessant, aber wenig hilfreich. Es gab nichts Neues zu entdecken, was mir nicht meine Träume auch mitgeteilt hätten. Ich stellte fest, daß es zwar möglich ist, in frühkindliche und auch vorgeburtliche Zustände mittels Atemtherapie hinabzusteigen. Neue, emotionale oder verstandesmäßige Einsichten vermittelten mir diese Erlebnisse jedoch nicht.

 

Die Psychoanalyse

Die Psychoanalyse beeindruckt und überzeugt vor allem durch ihr Theoriegebäude. Es umfaßt in hervorragend klarer Weise den Menschen in seinen seelischen Strukturen und in seiner Dynamik. Die Traumanalyse läßt die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie konkret und erlebensnah werden. Sie öffnen neue Einsichten über uns und andere. Sie sind lebendig und oft voller Gefühle. Die Träume sind der Bereich, der uns ganz zu eigen ist. Sie entspringen nur aus uns selbst und weisen uns die Richtung, in die wir uns entwickeln können und sollen.

 

Verhaltenstherapie

Die Wissenschaftler sind sich darüber einig, daß sich die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie sich aufeinander zubewegen und beide voneinander gelernt haben. Die Verhaltensanalyse nähert sich in ihren Verhaltensanalysen dem detaillierten Bericht einer biographischen Anamnese. Sie hat ein anderes Vokabular und Theoriegebäude als die Psychoanalyse. Die Verhaltenstherapie setzt sich aber sehr wohl mit den Gefühlen, den Ich-Funktionen, den Konflikten und dem Gewissen auseinander. Die festumschriebenen Therapieziele werden mit dem Patienten besprochen und erarbeitet. Der Vorteil der Verhaltenstherapie liegt in ihrer schnellen Anwendbarkeit und den festumschriebenen Therapiezielen. Für Patienten, die einen Umgang mit Träumen eher fürchten und sich daher mit ihrem Unbewußten nicht einlassen wollen, ist Verhaltenstherapie angezeigt. Es gibt auch Menschen, die in ihren Abwehrstrukturen so gefestigt sind, daß sie große Schwierigkeiten haben, sich der Welt der Träume und der tiefenpsychologischen Selbsterkenntnis zu öffnen. Dieses gilt z.B. für manche Phobiker und Zwangskranke. Hier ist Verhaltenstherapie angezeigt.

 

Das autogene Training

Das autogene Training stellt eine seit langem bekannte Entspannungsmethode dar, die vom Patienten selber erlernt werden kann und sehr effektiv ist. Es ist nicht nötig, Meditationstechniken mit ihrem religiösen Umfeld aufzusuchen, um zu einer inneren und äußeren Entspannung zu finden.

 

Die Persönlichkeit des Psychotherapeuten

Psychotherapie ist untrennbar verbunden mit der Person des Therapeuten. Der Kontakt, die Sympathie für den Therapeuten und das Vertrauen in ihn sind wesentliche Grundpfeiler für eine aussichtsreiche Psychotherapie. Der Psychotherapeut setzt sich mehr als alle anderen Ärzte und Heiler mit seiner Person im therapeutischen Prozeß ein, vor allem mit seinem Unbewußten. Seine Fähigkeit, seelische Vorgänge im anderen zu erfühlen, seine Kreativität, sein Engagement und seine Sensibilität stellen seine Instrumente dar. Gibt es nun eine Idealperson, die einen Psychotherapeuten kennzeichnet? Sicherlich. Ein guter Therapeut gibt Erlaubnis zum Leben, hat Einfühlungsvermögen. Er gewährt Schutz, zieht aber auch Grenzen und kann konfrontieren. Ein guter Therapeut hat eine positive, lebensbejahende Ausstrahlungskraft. Er hat sich selbst dem Reifungsprozeß gestellt.

Er macht seine Patienten nicht von sich abhängig. Ein erfolgreicher Therapeut wendet nicht allein eine Therapiemethode an, sondern er hat bei manchem Meister gelernt. Er hat eine Behandlungsmethode entwickelt, die mit seiner Persönlichkeit übereinstimmt. Ein guter Therapeut kann sowohl alte Menschen als auch junge Menschen behandeln. Er stellt sich auf Ablösungskonflikte bei Eltern ein, die ihre Kinder nicht loslassen können; er behandelt Ablösungs- und Reifungskonflikte Jugendlicher und junger Erwachsener. Er weiß, daß "das Drama von Trennung und Versöhnung" (7) eine wesentliche Rolle bei der Entstehung vieler seelischer und psychosomatischer Erkrankungen spielt.

 

Ziele der Psychotherapie

Wie weit ein Patient mit seinem Psychotherapeuten oder Psychiater kommt, hängt von vielen Faktoren ab, auch davon, wie tief der Patient sich auf die konfliktreiche und mit zahlreichen Entwicklungssymptomen einhergehende therapeutische Beziehung einläßt. Der Patient wird lernen, in konfliktreichen Beziehungen ohne Therapeut zu leben. Er wird Restsymptome aushalten, indem er diese besser einordnen und verstehen kann. Der Umgang mit dem Leiden, der Umgang mit Konflikten ist lernbar. Glück, Glückseligkeit, Zustände von mystischen Verschmelzungserfahrungen sind nicht Ziele einer wissenschaftlichen Psychotherapie. Die Ziele der Psychotherapie sind Symptomverbesserung und Strukturänderung der Persönlichkeit. Unter einem anderen Blickwinkel: Psychotherapie vermittelt Autonomie und das Erreichen von Arbeits- und Liebesfähigkeit.

 

Erschienen in der Zeitschrift: TW Neurologie Psychiatrie 8 (1994), S. 119-121.

 

Literatur

  1. Böhme, K.: Sekten und sektenähnliche Organisationen in ihrer Beziehung zur Psychiatrie. Fundamenta Psychiatrica (1993), 7, S. 30-36
  2. EvLKD (Hrsg.): Handbuch religiöser Gemeinschaften, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (1993), 4. Aufl.
  3. Freud, S.: Die Traumdeutung, Franz Deuteke Verlag, Leipzig, Wien (1911) 3. Aufl.
  4. Mead, M.: Leben in der Südsee, Szczesny Verlag, München (1965)
  5. Mitscherlich, A.: Krankheit als Konflikt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. (1967)
  6. Reich, W.: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus. Kiepenheuer & Witsch, Köln (1987)
  7. Stierlin, H.: Eltern und Kinder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. (1975)

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