Leitung: Dr. med.
Holger Bertrand Flöttmann
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin,
Psychotherapie
Wider das Gutachterverfahren nach den
Psychotherapie-Richtlinien
In der letzten Zeit wurden in Fachzeitschriften Artikel veröffentlicht, die das Thema Gutachterverfahren zum Inhalt hatten. Es ist auffällig, daß sich lediglich die Gutachter zu Worte melden, die das Gutachtersystem befürworten und die "mangelnde Qualität" der Psychotherapieanträge beklagen. Wo bleiben die Stimmen derjenigen, die sich täglich mit Formulierungen abmühen, mit dem "Schönen" von Lebenslinien, welche die Zustimmung der Gutachter finden?
Eine Kollegin aus dem süddeutschen Raum erzählte mir, sie sei nach anfänglichen Mißerfolgen dahin gekommen, ihre Anträge so abzufassen, daß sie von den Gutachtern angenommen werden. "Es handelt sich mehr um eine in sich stimmige Krankengeschichte als um die wirkliche Psychodynamik eines oft widersprüchlichen und komplexen Lebenslaufes". Es gehe beim Gutachterverfahren darum, sich für etwas begutachten zu lassen, das man sowieso zu tun bereit sei und wofür man seine ganze Arbeitskraft und seine bisherige Ausbildung zur Verfügung stelle.
Das Gutachterverfahren für psychoanalytische oder tiefenpsychologische Psychotherapie erfordert einen hohen Arbeitsaufwand. Es gibt Kollegen, die über drei Stunden an einem Gutachten sitzen. Einige berichten sogar, daß manches Gutachten bis zu 5 Stunden dauere. Es ist zu fragen, was macht das für einen Sinn? Welche andere ärztliche Gruppe muß sich einer derart formalistischen, bürokratischen Machtausübung unterziehen? Es gibt keinen vernünftigen Grund, das Gutachtersystem aus wirtschaftlichen oder aus Qualitätsgründen zu befürworten. Derjenige Psychiater, der sich einer jahrelangen Ausbildung unterzogen hat, die im Regelfall bis zu 10 Jahre dauert, derjenige, der sich mit dem schwierigen Gebiet der Psychotherapie überhaupt befaßt, derjenige wird auch eine qualitativ hohe und engagierte Psychotherapie ausüben, auch ohne bürokratische Kontrollausübung.
Einige Gutachter sind dazu übergegangen, der Psychoanalyse bestimmte Krankheitsbilder zuzuordnen, die angeblich für eine tiefenpsychologische Behandlung nicht geeignet sind. Hier ist es kein Zufall, daß sämtliche Gutachter Psychoanalytiker sind. Es macht auf den Patienten einen schlechten Eindruck, wenn plötzlich eine Absage durch den Gutachter erfolgt. Der Patient ist in der Regel sehr betroffen, verunsichert und gekränkt. Der behandelnde Arzt wird versuchen, die Behandlung trotz finanzieller Einbußen weiterzuführen.
Im Streit um das Gutachterverfahren geht es vor allem darum, die psychoanalytische Behandlungsweise in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen als die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Hier geht es wieder einmal um einen wissenschaftlich nicht belegbaren Schulenstreit, wer die effektivere und bessere Therapiemethode vertritt. Dieser Streit ist sicherlich nicht von dem orthodoxen, psychoanalytischen Verfahren gewonnen worden. So hätte sich die Psychoanalyse aber gern gesehen. Langzeittherapien von 240 Stunden zeugen eher von einer Ineffektivität des Verfahrens. Die von den Kassen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zuerkannten 80 Sitzungen sind in der Regel völlig ausreichend und decken einen Therapiezeitraum von 1 1/2 bis 2 Jahren ab. Hochfrequente Psychotherapien mögen orthodoxe Psychoanalytiker fordern, ihre Wirtschaftlichkeit ist bei der Mehrzahl der Patienten jedoch sehr zu bezweifeln. Auch hier geht es um Geld. Wer sich 200 Stunden bewilligen lassen kann, der wird dies auch tun, damit er nicht so viele Anträge schreiben muß und sich nicht so oft dem bürokratischen Zugriff auszusetzen hat. Veränderungen von Lebenseinstellungen und das Beseitigen von Symptomen erfordern nicht eine hohe Anzahl von Psychotherapiestunden, sondern hängen von den Fähigkeiten des jeweiligen Psychotherapeuten und der Einsichts- und Umstellungsfähigkeit des Patienten ab. Das große Feld der angstneurotischen Erkrankungen, der Infantilneurosen, der Bulimien, der Anorexien und der depressiven Erkrankungen bedarf keiner jahrelangen psychotherapeutischen Behandlung. Die Tatsache, daß Reifung und Individuation, Anpassung und Selbstwerdung jahrelange Prozesse sind, rechtfertigt noch lange nicht die Forderung der orthodoxen Psychoanalytiker nach einer zweifelhaften Langzeittherapie.
Es ist erstaunlich, daß sich eine ganze Berufsgruppe, nämlich die der Psychotherapeuten und Psychiater, von einer nur geschichtlich zu erklärenden Kontrollinstanz in der täglichen Arbeit beeinflussen läßt, ohne sich dagegen aufzulehnen. Der Grund mag auch hierhin liegen: psychoanalytische Ausbildung an Instituten erfordert ein hohes Maß an Anpassung und Unterwerfung unter die Kontrollmechanismen der analytischen Institute. Derjenige, der sich später dem Kontrollmechanismus des Gutachtens ausgesetzt sieht, hat die Kontrollansprüche der psychoanalytischen Institute introjiziert und sieht im Gutachterverfahren eine scheinbar begründete Aufsichtsfunktion.
Ein Nervenarzt, der vorwiegend Psychotherapie betreibt, wird in seinem Berufsleben an die 800 Gutachten erstellt heben. Setzen wir pro Gutachten 2 Stunden Arbeit, was insgesamt mit Korrektur sehr kurz bemessen ist, so müssen wir feststellen, daß 1600 Stunden für reine gutachterliche, bürokratische Tätigkeit verwendet worden sind. Ein Nervenarzt opfert zweihundert 8-stündige Arbeitstage für das Erstellen von Gutachten. Das Gutachterwesen fordert also eine enorme Menge an Energien und Arbeitszeit. Nach meiner 7jährigen Tätigkeit als psychotherapeutisch tätiger Psychiater kann ich beurteilen, daß eine Therapiedauer von 80 Stunden in 90% der Fälle erfolgreich und damit völlig ausreichend ist. Wenn einige Psychoanalytiker, welche die Gralshüter der reinen Lehre zu sein scheinen, meinen, die Psychotherapie entferne sich mehr und mehr von der Psychoanalyse, so haben sie hier den Nagel auf den Kopf getroffen: die Zahl der klinisch hochqualifiziert ausgebildeten Psychiater mit dem Zusatztitel Psychotherapie unterliegt einem enormen Wachstum.
Mit dem Gutachterverfahren ist es wie mit "Kaiser's neuen Kleidern": Eine Obrigkeit ordnet an, Gutachten werden gestrickt und genäht und von Gutachtern beäugt und beurteilt. Das Gutachten gibt aber keinerlei Aussage über die Qualität der Therapie und das Vorhandensein einer komplexen Symptomatik und Psychodynamik die Gutachtensteller haben nämlich nur eines im Sinn: das Überleben unter ökonomischen, ungewollten Zwängen nach den Psychotherapierichtlinien.
Die Frage, ob die Patienten für Psychotherapie geeignet sind, die in die psychiatrische Praxis kommen, entscheidet sich meist ganz von selbst: entweder sie sind bereit, den schwierigen Weg der psychotherapeutischen Wandlung zu beschreiten oder sie bleiben einfach weg. Da bedarf es keines gutachterlichen Verfahrens, um über den sogenannten Krankheitswert zu entscheiden.
Die Zahl der Psychiater und Neurologen, die den Zusatztitel Psychotherapie oder Psychoanalyse haben, wächst stetig. Es ist an der Zelt, daß sich die psychiatrisch ausgebildeten und mit dem Zusatztitel Psychotherapie ,versehenen Kollegen zusammenschließen und für eine Abschaffung des Gutachterwesens eintreten.
Zwecks Erfahrungsaustausch und einer breiten Meinungsbildung ist neuro date aktuell an möglichst vielen Leserzuschriften interessiert.
Erschienen in: Neuro Date Aktuell Nr. 32, (1.5.1991)
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