Gewalt in Träumen
Was ist Gewalt? Sie entspringt dem lebensnotwendigen Trieb der Aggression. Er ist stärker als andere Triebe. Bei manch einem ist er von Geburt an ausgeprägt, bei anderen schwach. Aggression und Gewalt sind Grundelemente unserer Träume. Das Unbewußte ist mit gewalttätigen Phantasien gespickt. Gewalt beschäftigt unsere Seele. Dies ergibt sich aus der Analyse von 28.565 digitalisierten Träumen. Das zweithäufigste Traummotiv ist die Aggression. Träume sind bei vielen, die sich im Loslösungskonflikt vom Elternhaus befinden, angefüllt mit Blut, Mord, Krieg, Verfolgung und Atomexplosion. Der Ablösungsprozeß ist gewalttätiges Sich-Losreißen von der Heimat, vom mütterlichen Busen, von väterlicher Strenge oder von emotionalem und sexuellem Mißbrauch. Bindung an die Eltern, fehlende Erziehung, Schuldgefühle, Scham, Trägheit, Widerstand, scheinbares Wohlbehagen im Zustand der Unbewußtheit verhindern den Reifungsprozeß. Die Gewalt der Träume wird dann nicht fruchtbar gemacht, sondern verdrängt. Sie richtet sich dann gegen andere oder gegen sich selbst.
Gewalt im täglichen LebenGewalt schleicht heute eher leise auf den Sohlen von Vernachlässigung, Verwöhnung, Kassette, Video, CD und DVD heran. Das Problem der Gewalt herrscht in jedem Stadtteil Deutschlands. Schüler der ersten Klasse füllen die Ranzen anderer mit Wasser. Ein Erstkläßler tritt die Lehrerin. Er schlägt Kinder. Schüler foltern Schüler. Ein Schüler stiehlt dem Klassenlehrer den Schlüsselbund. Der Lautpegel in einer Klasse ist unerträglich. Kaugummischmatzen des Nachbarn. Lernwillige Kinder werden gestört. Hier fehlen Grenzen. Schwache Lehrer leiden unter Schülern. Kindern fehlt Respekt. Die Rektorin sagt: "Was kann ich tun? Diese Kinder würden hier nicht sein, wenn es nach mir ginge. Aber es geht nicht. Mir sind die Hände gebunden." Die Zahl der straffälligen Kinder steigt sprunghaft: um 25,4% bis 34% ist ihre Zahl in einem Jahr in Schleswig-Holstein gewachsen. Die Zahl der Widerstände gegen die Staatsgewalt ist um 23% innerhalb von 6 Jahren gestiegen: Es wird "immer weniger gesprochen, sondern immer mehr gestochen, geschossen oder getreten". Nach dem Jugendgesundheitssurvey sind 13,4% der 11 – 15jährigen in den letzten zwölf Monaten mindestens zweimal in eine ernsthafte Schlägerei verwickelt gewesen.
Klassenfahrten enden nicht mit Besäufnissen, nein, sie beginnen mit dem Ziel des "Komatrinkens". Harte Getränke werden bevorzugt. Gewalt ereignet sich im Rausch. Strukturlosigkeit aller Orten. SAT 1 propagiert das Bierdiplom. Einige erzeugen Gruppendruck, der andere ergreift. Schwache, nicht strukturierte, ohne festes Über-Ich ausgestattete Menschen erliegen abartigen Abziehbildern der Zügellosigkeit.
Die Lehrer haben zu wenig Autorität, sie greifen nicht durch. Sie sehen fassungs- und hilflos zu. Ihr Argument: "Das sind doch erwachsenen Leute, die wissen, was sie als Abiturienten zu tun haben" ist antiautoritär eingefärbt. Es entspricht nicht der Realität eines achtzehnjährigen durchschnittlichen Bürgers. Achtzehnjährige sind nicht erwachsen, das Hirn ist nicht ausgereift. Erst bis zum 25. Lebensjahr haben sich alle neuroanatomischen Strukturen voll entwickelt wie neuroradiologische Untersuchungen nachweisen. Schon bald, wenn die Kinder sprechen lernen, kommen die Medien auf die Kleinen zugestürzt. Sie überschütten die Ahnungslosen mit Unflätigkeiten, Aggression und grenzüberschreitender Frechheit. Von Ordnung, Sitte und Anstand hören und lernen sie in den öffentlichen Medien so gut wie nichts. Lehrer sind überfordert, wenn sie diese Erziehungsarbeit nachholen sollen. Denn, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Die Antiautoritären haben diese Weisheit ausgeblendet.
Verbrämend heißt es in einer Überschrift "Sorgenkinder der Polizei". Sorgenkinder? Kriminelle Kinder. Der Polizei? Nicht der Eltern? Machen diese sich keine Sorgen um ihre Kinder? Die Antwort lautet: Wohl weniger. Sie wissen nicht, was ihre Kinder gemeinschaftsfeindlich macht. Es ist erstaunlich: Die geschändete Natur hat viele Betreuer gefunden. Krötenschützer lesen wanderfreudige Kröten auf, um sie vor den Reifen der Autos zu retten. Adler erhalten Ganztagsbetreuung. Das Umweltbuch "Der stumme Frühling" war ein Erfolgsbuch über eine bedrohte Natur . Doch wer sorgt sich um unsere Kinder? Die Zahl der Gewalttaten durch Jugendliche hat sich um fast 100% in Schleswig-Holstein gesteigert - von 1998 bis 2004. In Kiel haben die Einbruchsdiebstähle durch Jugendliche in einem Jahr um 166% zugenommen.
VernachlässigungKinder brauchen Schutz, Liebe, Geduld, Zuwendung, Erziehung. Die Zahl der vernachlässigten Kinder und somit rohe Gewalt wachsen: "Vernachlässigung eines Kindes spielt bei der Entstehung von Angst eine zunehmende Rolle. Die hohe Zahl der beidseits Berufstätigen, der Erziehungsunfähigen und der Scheidungsehen führt dazu, daß Kinder sich fehlentwickeln. Vernachlässigung heißt, einem Kind Erziehung vorzuenthalten. Hierzu gehören: Bildung, Empathie, Grenzziehung und Zuwendung. Der Aufbau von Über-Ich, Ich und der gekonnte Umgang mit Trieben und Bedürfnissen umschließen den Erziehungsauftrag reifer Eltern. Wesentlich für eine positive Entwicklung ist eine Identifikation mit einem Vater und einer Mutter, die weder das Kind emotional, sexuell oder politisch ausbeuten, noch sich ihren Kindern entziehen" . Die Krankheiten und Störungen der Kinder, die sich durch Vernachlässigung, falsche Vorbilder und falsche Erziehung ergeben, sind gravierend und zunehmend.
Was ist das für ein Volk, welches Gewalt gebiert wie Ratten Junge werfen? Übertrieben? Nein, denn die Meldungen über Gewalt hören nicht auf: "Einer Studie des Bundeskriminalamtes (BKA) zufolge verhalten sich fünf Prozent aller Schüler regelmäßig gewalttätig – bei insgesamt rund 12,5 Millionen Schülern in Deutschland sind das etwa 625.000 Schüler. Ein Drittel wird sogar gelegentlich handgreiflich. Jeder dritte Schüler hat laut den Angaben des 'Weißen Rings' Angst davor, allein den Schulweg anzutreten...Jeder vierte Hamburger Jugendliche gab an, im Jahr 1997 mindestens einmal Opfer der Gewaltdelikte Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt und Körperverletzung geworden zu sein. Die geschätzten Dunkelziffern sind dabei überaus hoch: Bei Raub wurden 74 Prozent der Straftaten nicht polizeilich angezeigt, bei Erpressung 81 Prozent, sexueller Gewalt 98 Prozent, Körperverletzung mit Waffen 86 Prozent und Körperverletzung ohne Waffen 92 Prozent...Gewalt sei nicht nur ein Problem der Hauptschulen, das mannigfaltige Auftreten sei in allen Schulen des Landes feststellbar" . Gewaltorgien Einzelner und ganzer Banden an den Schulen. Lehrer in Angst. Nahezu tägliche Raubüberfälle in Kiel. Von Totenglocken begleitete Anzeichen eines Untergangs, der Neues gebiert? Heißlaufende Systeme schrumpfen. Ein Volk wabert schwankend - früher im Sumpf der Kriege, jetzt im Sumpf der Triebe.
Gewalt färbt die Falten der KinderhirneGewalt gebiert Gewalt. Fernsehen, Kino und Rechner strotzen vor Gewalt. Alle Welt wundert sich, daß Gewalt sich ausbreitet wie die Pest. Doch für die Pest konnte niemand. Die Gewalt geht auf die Verantwortung Geldgieriger, Sorgloser, Verführter, Verirrter. Zwei Stunden Gewalt? Zum Abgewöhnen? Für Kinder und Ältere zum Angewöhnen. Im Jugendgesundheitssurvey wird angegeben, daß die 11- bis 15jährigen täglich etwa 2 ½ Stunden vor dem Fernseher und 1 ½ Stunden vor dem Computer verbringen. Kinder gewöhnen sich an Haß, Spott und Gewalt. Der große Krieg ist bei uns abgeschafft. Es lebt die Gewalt auf Bildschirmen, Leinwänden, Straßen und in der Schule. Mädchen mißhandeln ihresgleichen. Schüler zerschlagen Fenster. Schüler zerstören Schränke. Alles normal? Eine Studie gefällig?
Wer als Kind Gemeinheiten, Gewalt und ihre Verherrlichung massenhaft in sich aufnimmt, stumpft ab. Gewalt auf der Straße stellt sich dem Zuschauer so dar, wie er sie täglich im Fernsehen sieht. Der Verbraucher von Gewalt ist an sie gewöhnt. Er hat sich einer Verhaltenstherapie zur Gewaltakzeptanz unterzogen in mehreren tausend Übungsstunden. In Kiel wuchs die Zahl der Körperverletzungen von 2003 bis 2004 um 45%. In Brandenburg stiegen die Zahlen um 24% bei Mord oder Totschlag. Knapp die Hälfte der Täter war jünger als 21 Jahre.
Wurzeln der Gewalt in der FamilieDas Schlimme an Schlägen sind nicht die kurzen körperlichen Schmerzen, sondern die elementare grenzverachtende Gewalt, mit der ein Kind an Vater oder Mutter gekettet wird. Der Eindruck in der Seele, daß Vater oder Mutter körperliche oder seelische Gewalt ausüben, ist prägend und haftend. Später meidet das Opfer Gewalt oder richtet sie gegen sich oder andere. Das kettende Treueband wird nur unter äußerster Kraftanstrengung aus der Tiefe der Seele gerissen, gehoben und gezerrt. Die Bindung und die Verletzungen müssen unter großer Geduld über Jahre hinweg entfernt werden.
Wie sehr Gewalt den Menschen umtreibt, erkennen wir auch daran, daß Kinder sich schlagen und beißen ohne Gewissensbisse. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, mäßigend und sozialisierend auf ihre aggressiven Sprößlinge einzuwirken. Indem wir unseren Kindern die offene, körperliche und auch seelische Gewalt abgewöhnen, befreien wir sie aber nicht von ihrem Gewaltpotential, welches der Loslösungsenergie vom Elternhaus entspricht. Dieses wächst in der Pubertät. Die Gewaltphantasien der jungen Menschen richten sich ursprünglich gegen das Elternhaus, von dem sie sich ablösen müssen. Haben Eltern ein Kind zu stark an sich gebunden, so kann ein enormes Gewaltpotential gegen die Eltern aktualisiert werden. Stierlin spricht in diesem Zusammenhang von elterlicher Bindungsgewalt.
Das monströse, gefährliche Abenteuer, in dem es Tote und Verletzte gibt, fasziniert den Menschen. Kriege, perverse Spiele im alten Rom mit Sklaven und Löwen, Autorennen, Catchen und andere gewalttätige Sportarten begeistern. Warum? Weil die meisten Menschen sich nicht ihrer inneren gewalttätigen Phantasien bewußt geworden sind. Sie hängen fest im Loslösungskonflikt vom Elternhaus und toben sich in der Außenwelt blind und unbewußt aus als wären sie Kinder. Wären sie sehend, würden sie ihre innere Welt erobernd ordnen, den inneren Kampf als Herausforderung annehmen.
ErziehungsgewaltErziehungsgewalt ist notwendig. Erziehungsgewalt ist erforderlich, weil im Menschen eine starke Neigung steckt, sich verwöhnen zu lassen, faul zu sein, unordentlich, passiv, strukturlos und auch aggressiv. Gegen diese Kräfte anzugehen, erfordert Erziehungsgewalt. Der Weg, über kindliches Verhalten und Krisen zur Reife zu gelangen, bleibt als Aufgabe des Menschen bestehen, auch wenn Medien und Politiker das Unreife vergrößern und vergöttern. Das Leben nimmt keine Rücksicht. Es drängt den Unreifen in die Arbeitslosigkeit, in die Bettelei oder auf andere Abwege wie Einsamkeit, Scheidung, Sucht, psychische Krankheit oder Gefängnis. Nach dem Motto "das Eisen muß man schmieden, solange es heiß ist", gilt es, Kinder früh zu erziehen. Reifungsprozesse gehen gnadenlos mit dem Traumbild des Kindstodes einher, bei manchem auch mit einer Fülle von körperlichen und seelischen Symptomen wie Angst und Depression. Das Beharren in der Welt des Infantilen, aber auch das Wandeln, kosten Kraft. Die Angst vor Wandlung beruht auf Schuldgefühlen, der Angst vor dem Neuen, der Ungewißheit und auf dem Gebot der Eltern, ihren Gartenzaun nicht zu überklettern.
Wo sind die Eltern, die ihre Kinder aus dem Hause jagen - der Schöpfungsgeschichte gleich? Die Wenigen, die man großzieht, werden verhätschelt und vernachlässigt, vor allem wenn die Mutter den ganzen Tag arbeitet. Es fehlen das Wissen, was gut oder schlecht für das Kind ist, vor allem aber der Wille. Eine wesentliche kulturelle Aufgabe der Psychologie besteht darin, den Wissensstand zu heben. Das Wissen um Träume sollte allgemeines Kulturgut werden. Die Sozialversteher werden verstummen und Grenzen setzen. Auch mittels Härte und Gesetz. Eine Gesellschaft, die es duldet, daß ihre Kinder und Jugendlichen Hauswände beschmieren, die es duldet, daß ihre Kinder sich betrinken, ihre Gesundheit mit Zigaretten, Alkohol und Drogen zugrunde richten, die es hinnimmt, daß Wege vermüllen, daß der Umgang an Schulen verroht, eine derartige Gesellschaft braucht Grenzen und Hilfe.
Entgegen dem Prinzip der Erziehungsgewalt steht das Prinzip des Wachsenlassens. Hierzu gehören Redewendungen wie: "Alles braucht seine Zeit" oder "Gut Ding will Weile haben." Ohne Willen und Druck, von innen oder von außen, verändert sich nichts auf der Welt.
Autor: Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann
Dieser Artikel ist erschienen in Neurodate Aktuell 1 (2006), S. 49-55
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