Kritische Überlegungen zur forcierten Regression

Seit Beginn der Psychoanalyse besteht ein Interesse an pränatalen und perinatalen Eindrücken auf das Kind. In den letzten Jahren zeigt sich eine Zunahme der Literatur und der Zahl der Autoren, die das Aufsuchen prä- und perinataler Zustände zur Überwindung neurotischer Störungen und psychosomatischer Erkrankungen fordern (1, 2, 3, 4). Auch Janus hat sich zu diesem Thema in dem Artikel "Die Bedeutung des Konzepts der Geburtsangst in der Geschichte der Psychoanalyse" geäußert. Er geht davon aus, daß Frühtraumen und Geburtsangst Anlaß zu neurotischen Störungen sein können (5), während andere Autoren den Begriff der frühkindlichen Hirnschädigung für verschwommen und wenig aussagekräftig halten (6).

Rank schildert in seinem Buch "Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse" zwar, daß die Geburtsangst durch Atemnot und Schmerzen eine Fixierung und eine Tendenz zur Regression in den Mutterleib bewirke (7). Er verdeutlichte jedoch später seine Auffassung zum Verständnis des Geburtstraumas: "Um Mißverständnissen vorzubeugen, betone ich besonders, daß auch das Trauma der Geburt nicht so sehr inhaltlich verwendet wird, wie man aus meiner ersten Darstellung geschlossen hat, sondern in seiner dynamischen Bedeutung als universales Symbol der Ich-Findung und der Separation von dem jeweiligen Hilfs-Ich, das ursprünglich die Mutter, in der Behandlung der Analytiker ist."(8)

Das Erlangen regressiver, embryonaler Zustände ist mit bestimmten Techniken möglich (Primärtherapie, Rebirthing, LSD-Einnahme, Hypnose). Die Neigung des Menschen, dem mütterlichen Sog in die Regression nachzugeben, entspringt aber nicht einem irgendwie gearteten Geburtstrauma. Ausschlaggebend für eine Vielzahl von Symptomen, auch von Angst, ist die Einstellung der Mutter, das Kind aus der Symbiose nicht herauszulassen, so daß ihm ein Weg in die Selbstbestimmung und frei von Ausbruchsschuld nicht offensteht.

Die unendliche Phantasie des Menschen umfaßt den gesamten Kosmos, so daß selbstverständlich auch intrauterine, transpersonale und kosmische Ereignisse erlebt werden können, auch Ereignisse der Vergangenheit, wie sie Grof unter LSD-Einnahme beschrieben hat (9).

Das Phantasieren von Geburtsvorgängen mit den dazugehörigen Angstzuständen ist nichts anderes, als sich dem negativen, zerstörerischen und verschlingenden, auch todbringenden Aspekt der Großen Mutter zu stellen. Insofern kann die Technik des Rebirthing zu einer Auseinandersetzung mit dem bösen Aspekt der Mutter führen. Nicht das Erleben einer phantasierten Geburtsangst, sondern das Erleben der Angst vor der verschlingenden Mutter und die Identifikation mit ihr führen zu einer Angstminderung.

Das stufenweise Hinabgleiten der regressiven Leiter - mit grauenerregenden oder glückseligen Zuständen - erfordert erstens viel therapeutischen Aufwand und zweitens den Glauben, daß Regression angst- und symptomfrei macht.

Für den Patienten ist die forcierte Regression nicht ohne Gefahr. Das Zerschlagen von Abwehrstrukturen und das plötzliche Hinabtauchen in die Tiefen des Unbewußten mit einer Überflutung des Bewußtseins können zu psychotischen Episoden führen.

Sicher ist es richtig, daß der Patient den Ort der Angstvermeidung aufsuchen muß, aber nicht durch den plötzlichen Zusammenbruch der Abwehrstrukturen. Diese gilt es nach den Gesichtspunkten der Ich-Psychologie aufzubauen und zu stärken (10).

Die psychoanalytische Betrachtungsweise, die Übertragungsbeziehung und die Abwehrmechanismen bleiben bei den regressiven Therapieformen weitgehend außer Betracht. Das Abreagieren von Affekten durch technische Kunstgriffe bringt zwar vorübergehende Erleichterung, beschleunigt aber die Persönlichkeitsentwicklung nicht. Die Befreiung von der elterlichen Bindungsgewalt erfordert neben Geduld und Zeit die ganze seelische Kraft im Hier und Heute.

Bereits Freud hatte sich kritisch und ablehnend gegenüber kathartischem Erleben von Geburtsangstzuständen geäußert (11). Auch Bräutigam und Zettl warnen vor "einer verhängnisvollen Tendenz, der Neigung nämlich, auf der Suche nach angeblichen angstauslösenden Einwirkungen von außen immer weiter in der Lebensgeschichte zurückzugehen. Schließlich werden dann allerfrüheste Erlebnisse des ersten Lebensjahres, ja der Geburtsakt selbst und die Zeit vorher als Ursachen neurotischer Ängste angeschuldigt. Für diese Behauptungen fehlen alle empirischen Beweise"(12). Es ist auch heute ein Trugschluß zu glauben, das Wiedererleben pränataler Ereignisse führe zu einer dauerhaften Symptomfreiheit.

In der Psychotherapie sollte der Patient es lernen, die Konflikte, die ihn ein Leben lang begleiten werden, zu lösen, auszuhalten oder Bereitschaft zu Kompromissen zu entwickeln.

Die psychische Geburt im Ablösungsprozeß von den Eltern, Wachstum und Reifung finden statt, wenn ich den Mut habe, die Erkenntnisse, die ich über mich durch Erforschung der Träume und Verhaltensweisen erringen kann, in die Tat umzusetzen. Daß dieses oftmals nicht möglich ist, liegt an der Macht der elterlichen Bindungen, die den Weg der Selbsterkenntnis und der Selbstfindung unterbinden können.


Literatur

1) Janov, A.: Anatomie der Neurose, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. (1974)
2) Janov, A.: Das befreite Kind, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. (1975)
3) Grof, S.: Geburt, Tod und Transzendenz, Kösel-Verlag, München (1985)
4) Grof, S.: Das Abenteuer der Selbstentdeckung, Kösel-Verlag, München (1987)
5) Janus, L.: Die Bedeutung des Konzepts der Geburtsangst in der Geschichte der Psychoanalyse, Psyche 9 (1987), S. 832-845
6) Esser, G., Schmidt, M.: Minimale cerebrale Dysfunktion, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart (1987)
7) Rank, O.: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig, Wien, Zürich (1924), S. 191-206
8) Rank, O.: Technik der Psychoanalyse, Bd. III, Leipzig, Wien (1931), S. 20
9) Grof, S.: Topographie des Unbewußten, The Viking Press Verlag, New York (1975)
10) Blank, G.: Angewandte Ergebnisse der Ich-Psychologie, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart (1974)
11) Freud, S.: Hemmung, Symptom und Angst (1926) GW VI Studienausgabe, Fischer-Verlag (1971), S. 290
12) Bräutigam, W., Zettl, St. In: Angst, (Hrsg.) Schulz, H.J., Kreuz Verlag (1987), S. 20


Autor: Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann

Dieser Artikel ist erschienen in der 1. Auflage des Buches "Angst - Ursprung und Überwindung" (1989) .

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