Existenzangst

Angst - Ursprung und Überwindung

 

Existenzangst treibt viele Menschen um. 51 meiner Patienten haben in den letzten 5 Jahren das Wort Existenzangst in ihren schriftlichen Aussagen benutzt. Einige schreiben: "Herr Doktor, ich leide unter Existenzangst." Sie umschreiben diese als: "Angst vor mir selbst" oder als "Angst vor dem Leben." Ist es die Angst, die Existenz zu verlieren, weil die Firma schlecht läuft, die Entlassung droht? Oder haben sie in der Tiefe ihrer Seele keine Erlaubnis, sie selber zu sein? Das Wort "Existenz" kommt aus dem Lateinischen. Es heißt: Hervortreten, entstehen, zum Vorschein kommen, werden . Haben diese Menschen Angst vor dem Werden? Angst, so zu sein, wie sie wirklich sind?

Psychotherapeuten haben es häufig mit Menschen zu tun, die unter Ängsten leiden. Sie haben Angst vor sich selbst, sie haben Angst zu leben. Es ist die Angst, sich von den Eltern zu lösen, die Angst, stark zu sein oder die Angst, Nein zu sagen. Auch Angst vor Nähe und vor Bindung kann einen zur Einsamkeit und Verzweiflung treiben. Was berichten einige Patienten über ihre Existenzängste?


Alles über meine Existenzängste

Ein 46jähriger Schiffsbauer berichtet: "Ich habe Existenzängste von Beginn meiner beruflichen Laufbahn an. Jedesmal, wenn sich das Ende des Zeitvertrags nähert, bekomme ich Magenschmerzen. Dann werde ich bei meinen Vorgesetzten vorstellig, wie es mit einer Übernahme in Festanstellung aussähe. Hinzu kommen die mütterlichen Vorwürfe, daß ich mir in den zurückliegenden zehn Jahren ja nichts angeschafft hätte."


Ich bestehe aus Schuldgefühlen

"Wenn meine Freundin und ich uns lieben wollen, funktioniert es nicht. Er schlafft ab, sobald ich ihr nahe komme. Ich bin beim Urologen gewesen. Er hat nichts Organisches festgestellt. Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen. Ich habe eine sehr innige Bindung zu meiner Mutter. Ich fahre alle 14 Tage zu ihr nach Rendsburg. Wir haben ein großes Haus. Da hab ich eine eigene Wohnung. Ich bin seit 4 Wochen nicht mehr bei meiner Mutter gewesen. Deswegen gibt es Streß mit ihr. Ich bin 46 Jahre alt. Ich wohne und arbeite in Itzehoe. Am Wochenende bin ich bei meiner Freundin in Neumünster. Wir haben uns über das Internet kennengelernt. Meine Segelfreunde haben gesagt, daß ich eine Freundin bräuchte. Sie haben mich quasi überredet. Ich habe Angst, auf Frauen zuzugehen. Ich habe einen Freundeskreis. Ich habe keinen Kontakt zu meiner Schwester. Ich habe jahrelang alle zwei Tage mit meiner Mutter telefoniert. Seit 5 Wochen spricht sie nicht mehr mit mir. Sie ist beleidigt, weil ich ihr meine eigene Meinung gesagt habe. Auf der Arbeit läuft es gut."


Wie ich meiner Persönlichkeit beraubt wurde

"Meiner Persönlichkeit beraubt wurde ich durch die Erziehung meiner Eltern. Diese haben mir in zu vielen Bereichen gesagt, was zu tun und was zu lassen ist. Ich kann mich nicht erinnern, mal etwas "Verbotenes" gemacht zu haben. Habe ich selbständig als junger Erwachsener gehandelt, dann gab es immer etwas, was die Eltern bemängelt haben. So beim ersten Versuch, die eigene Wohnung zu renovieren. Da sind die Wandfarbe und der Teppich falsch gewesen. Aus meiner jetzigen Sicht fehlt mir die selbständige Entwicklung. Ich habe die Kindheit, die Jugend, das Erwachsensein immer in unmittelbarer Nähe zu den Eltern erlebt. Ich bin erst von zu Hause ausgezogen, als ich 38 Jahre alt gewesen bin."

Der Traum von meiner Geldbörse

"In der Stadt wird mir meine Geldbörse mit all meinen persönlichen Papieren entwendet. Meine Geldkarten habe ich alle noch sperren können. Doch ohne meine Papiere werde ich von meiner Umwelt nicht wahrgenommen."
Auf die Frage: " Was will der Traum mir sagen zu meiner jetzigen Lebenssituation?" schreibt er:
"Ich habe die existentielle Angst, für mich und meine Familie, die ich noch nicht besitze, nicht sorgen zu können. Ich werde meiner Persönlichkeit beraubt. Ich kann mich den Mitmenschen gegenüber nicht mehr legitimieren und präsentieren. Mein persönlicher Lebens- und Berufszähler ist auf Null gestellt worden. Die Therapie wird dafür sorgen, daß ich meine Identität finde. Ich baue meine Schuldgefühle ab, die mich am sexuellen Erleben hindern. Ich werde meine sexuelle Identität als Mann ausbauen, auch streiten lernen."


Angst vor der Zukunft

Ein 25jähriger Universitätsangestellter schreibt zu der Frage: "Was ist Ihr größtes momentanes Problem?": "Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich habe einen neuen Job angenommen. Es ist ein großer Wunsch von mir und meiner Freundin, daß wir zusammen in Kiel wohnen und wir in der näheren Umgebung arbeiten. Also habe ich meine Arbeit in Flensburg aufgeben und eine neue in Preetz angenommen. Die Enttäuschung, daß dieser Job absolut nicht das ist, worauf ich mich gefreut habe, ist riesengroß gewesen.
Da habe ich schnell Angst bekommen, daß ich nichts Anderes finde und ich dort längere Zeit verbringen muß, wo doch jeder Tag für mich eine absolute Qual ist. Jetzt hat mich die Angst überrannt, und ich lasse kaum noch bejahende Gedanken an mich heran. Selbst die Tatsache, daß ein Vorstellungsgespräch woanders bereits erfolgreich verlaufen ist und ich ein neues Arbeitsangebot habe, stimmt mich nicht positiv. Es steigert eher die Angst, daß es wieder ein Fehlgriff ist, und dann wirklich für mich der Weg ins berufliche Nirwana führt."


Was fühlen Sie, wenn Sie darüber nachdenken?

"Meistens steigere ich mich sehr in diese Gedanken hinein. Ich muß dann weinen. Dabei empfinde ich mich als hilflos. Ich habe auch das Gefühl, daß niemand mir aus dieser Situation heraushelfen kann. Nicht einmal ich selbst. Ich hätte mir immer gewünscht, daß ich mir mehr zutraue. Ansonsten fand ich meine Kindheit eigentlich schön.
Was ich jetzt ändern würde? Im Moment wünsche ich mir mehr Selbstvertrauen. Das fehlt im Moment. Ich habe Angst um meine Zukunft. Ich habe gewisse Vorstellungen. Vor allem in Verbindung mit meiner Freundin. Ich liebe sie und möchte mein Leben mit diesem Menschen verbringen. Ich habe Angst, daß ich ihr kein gutes Leben bieten kann. Daß ich ihre Erwartungen nicht erfüllen kann. Ich möchte einen Job haben, der mir Spaß macht. Ich habe Angst, daß ich diesen nie bekommen werde."


Traum von der Wandlung

"Ich habe mich draußen an der Hauswand erhängt." Er sagt zu dem Traum: "Diesen Traum habe ich sehr hart gefunden." Der Traum teilt dem Universitätsangehörigen mit, daß er bereit ist, sich zu ändern. Er erfährt innere Wandlung im Traum durch den Tod. Der Mann ist bereit, sein Kindverhalten aufzugeben, seine infantile Riesenanspruchshaltung an sich selbst und an die Freundin zu verlassen.

 

Der frühe Tod meiner Eltern

Ein 30jähriger Umwelttechniker hat Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden. Er berichtet: "Mein größtes momentanes Problem ist, verlassen zu werden, und damit verbunden ist die Angst, meinen Job zu verlieren. Somit ist meine existentielle Situation gefährdet. Wenn ich über diese Dinge nachdenke, fühle ich Hilflosigkeit gepaart mit der Angst, mein Zuhause zu verlieren.
In meiner Kindheit waren meine Eltern sehr wichtig. Ich war 11 Jahre alt, als mein Vater starb, 16 Jahre alt, als meine Mutter starb. Nach dem Tod meiner Mutter waren nur noch meine Freundinnen, bzw. Lebensabschnittsgefährtinnen für mich wichtig.
Ich bin der Meinung, daß meine Existenz- und Verlassensängste auf den frühen Tod meiner Eltern zurückzuführen sind. Die Ängste zu versagen, hätte ich vermutlich im Griff. Ich wußte nie, ob ich etwas falsch oder richtig gemacht habe, weil niemand in meiner Nähe mir Ratschläge geben konnte, bzw. mich so gelobt oder getadelt hätte, wie es Eltern normalerweise machen würden. Vielleicht hätte ich auch meine Existenzängste nie bekommen."
Die Selbsterkenntnis des Umwelttechnikers ist einseitig. Sie übersieht die ungelöste Symbiose mit seinen Eltern. Er verharrt in einer festen, ihm unbewußten Bindung mit ihnen. Der Patient hat Angst, ihren frühen Tod in den Träumen zu verarbeiten, sich von ihnen zu lösen und seine Kindheit zu verlassen. Dann wird es ihm möglich sein, eine feste Bindung einzugehen und Lebensfreude zu empfinden.


Ich bin nicht Herr im Hause

Ein 25jähriger Schüler einer Medizintechnikerschule berichtet: "Ich leide unter einer existentiellen Angst. Ich fühle mich kraftlos. Ich bin ruhelos und kann mich nicht konzentrieren. Ich habe seit kurzem Angst davor, nicht mehr Herr der Lage zu sein."

Er schreibt zu den Fragen:

Wo entwickle ich meine Identität?

"Ich merke, wie ich Teil des aktiven Lebens werde und mich vor unbekannten Situationen nicht zurückziehe, sondern mich bewußt diesen stelle. Dies fördert die Entwicklung meiner Identität. Ich merke, daß ich selbstbewußt bin und ich durchaus eine eigene Meinung habe. Ich kann diese auch durchsetzen.
Ich zeige mich in der Schulpause auf dem Hof männlicher und selbstbewußter als früher. Ich spreche auch Leute an, die ich nicht kenne. Auf negative oder beleidigende Aussagen reagiere ich nicht mehr gekränkt, sondern angemessen selbstbewußt und wenn es sein muß, auch streng zurückweisend.
Ich fühle mich heute auch nicht mehr gezwungen, etwas zu machen, nur um den Anderen zu gefallen.
Ich interessiere mich sehr für die Softwareentwicklung und das ist ein Teil meiner Identität. Ich gehe offen auf Menschen zu. Das macht mir sehr viel Freude."


Wie zeige ich meine sexuelle Identität?

"Ich gucke gern schöne Frauen an. In meiner Phantasie stelle ich mir dann vor, wie ich mit ihnen schlafe. Wo ich früher dachte, ich hätte sowieso keine Chance bei diesen Frauen zu landen, bin ich heute aufgeschlossener und versuche, Blickkontakt herzustellen und diese Frauen anzulächeln."


Wie löse ich mich von meiner Mutter?

"Ich besuche meine Mutter jetzt nur noch alle zwei Wochen und rufe dazwischen auch nicht mehr an. Ich vertrete meine Meinung ihr gegenüber mit Nachdruck. Ich sage ihr, was mich stört, z.B. wie sie mit meinem Vater und meiner Schwester redet. Ich halte sehr viel weniger in den Gedanken Konversation mit ihr. Wenn ich dies merke, dann unterlasse ich das."

Was ich an der Therapie gut finde:

- "Daß sie mir hilft, selbständig zu sein
- Daß der Therapeut mir mein negatives Verhalten vor Augen führt.
- Daß ich meine Ängste dadurch verliere und meine Lebensfreude entwickeln kann.
- Daß ich erinnert werde, dynamisch im Leben zu sein."


Traum von den grünen Pflanzen

"Ich bin im Weltraum mit vielen tausend Planeten vor mir. Ich schwebe zu einem Planeten, der nicht bewohnt ist. Ich lande in einem Gewächshaus, das ich angelegt habe. Dort sind überall strahlende, grüne Pflanzen. Ich berühre eine von ihnen mit dem Zeigefinger. Aus diesem tritt eine weiße Lichtkugel aus, die auf die Pflanze übergeht.
Auf einigen Pflanzen kriechen Spinnen und andere Insekten herum. Ich habe Angst vor ihnen, doch dann überwinde ich die Angst. Ich zerquetsche all die Spinnen mit einem sehr hohen Gefühl der Stärke und Aggression."

Der Schüler schwebt im Traum in einer einsam-symbiotischen Welt. Doch er hat den Mut, seine Männlichkeit und Sexualität zu entwickeln. Diesen begegnet er in Gestalt der Pflanzen, die er von den Spinnen befreit, welche seine identitätszerstörende Mutter symbolisieren.


Der Sinn meiner Krise

Eine 50jährige Krankenschwester schreibt über ihre Therapie: "Aus meiner Existenzkrise bin ich heraus. Meine Kinder akzeptieren mich wieder und holen sich sogar meinen Rat. Nie werde ich die letzten Jahre, die schlimm und zugleich positiv waren, vergessen. Ich bin heute so, wie ich immer sein wollte."


Zwei Freunde

Zwei Freunde haben sich lange nicht gesehen. Der eine sagt: "Lieber Freund, schau, nun habe ich mit meiner Frau die Millionen gescheffelt. Ich bin 65 Jahre alt und habe einen Sohn. Der hilft seiner Mutter im Büro. Ich frage Dich: "Was ist das Glück auf Erden?" Der andere antwortet: "Kinder und Familie zuoberst."

 

Das Zentrum des Lebens

Eine 17jährige Fleischereifachschülerin kommt wegen einer akuten Suizidgefährdung in meine Behandlung. Sie schreibt nach der ersten Therapiestunde zu der Ergänzungsfrage "Was mich glücklich machen würde auf Erden?": "Eine Familie mit 3 Kindern." Ihre Worte zeigen in ihre Zukunft. Familie und Kinder sind der zentrale Sinn ihres Lebens. Drumherum ranken andere Aufgaben.

Für den Einzelnen mag dieses Andere wichtiger werden, weil er keine Erlaubnis hat, aus sich herauszukommen, in Familie weiterzuexistieren, . Doch die Menschheit als Ganzes kennt einen gemeinsamen Sinn, nämlich den Willen, in der Familie zu leben, in Liebe, Bindung, Wärme, Abstand, Verstand und Kultur.

Literatur beim Verfasser

 

Autor: Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann
Dieser Artikel ist erschienen im Praxis Magazin Nr. 2 (2009), S. 26-29

  

Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Zurück zur Startseite