Der schwierige Patient in der nervenärztlichen Praxis am Beispiel der Bulimie

Ursprung und Überwindung

 

Zusammenfassung

Es werden die Behandlungsschwierigkeiten in einer psychiatrischen Praxis am Beispiel der Bulimie dargestellt. Die Therapie der Bulimie wird dadurch so schwierig und komplex, daß eine Vielfalt psychopathologischer Zustandsbilder bei dieser Erkrankung auftritt. Regressive Tendenzen und Widerstände des Patienten erschweren die Auflösung symbiotischer Verhaltensweisen, das Ziel der Behandlung. Der Weg zu mehr Autonomie, Durchsetzungsfähigkeit und Abgrenzungsvermögen ist begleitet von Zweifeln, Schuldgefühlen, Suizidgedanken und heftigen Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. Die Aggressivität spielt bei den narzißtisch gestörten Bulimikerinnen eine besondere Rolle.

Summary

Difficulties in psychiatric treatment are described by the example of bulimia. Therapy of bulimia becomes difficult and complex, because within this disease many psychopathological phenomena appear. The aim of psychotherapy is the solution of symbiotic behaviour. Successful therapy is restrained by regressive tendencies and resistance of the patient. The way to autonomy and the capacity to set limits and to achieve is assiociated with doubts, feelings of guilt, suicidal phantasies and strong transference and countertransference phenomena. Among bulimics with narcistic disorders aggressivity plays an important

 

Bulimie – ein häufiges Krankheitsbild

Weniger schwierige Patienten kommen in der nervenärztlichen Praxis selten vor. Allein die Tatsache, daß die meisten psychiatrischen Patienten keine Überweisungsfälle sind, sondern von sich aus den Weg zum Nervenarzt finden, weist auf einen höheren Erkrankungsgrad hin. Denn die leichten Fälle werden nach unseren Erfahrungen von den Hausärzten nicht überwiesen, sondern selbst behandelt (2). Das Hauptklientel einer nervenärztlichen Praxis in einer mittleren Großstadt besteht aus depressiven, angstneurotischen und Suchtpatienten. Die ausgeprägten Angstneurosen und vor allem die Suchterkrankungen sind schwierig zu behandelnde psychiatrische Krankheitsbilder, wobei die Bulimie mehr und mehr in den Vordergrund tritt (13).

Die Forschung hat sich vermehrt der Bulimie gewidmet, nachdem die Magersuchterkrankung eingehend beschrieben worden war. Auch in der Öffentlichkeit ist die Kenntnis um die Eßsucht gestiegen, so daß zusammen mit einer objektiven Zunahme der Erkrankungshäufigkeit sich Bulimiepatienten vermehrt in psychotherapeutisch-nervenärztliche Behandlung begeben.

 

Sucht bedeutet vermehrte Anstrengung

Die Bulimie stellt an den Psychiater aus unterschiedlichen Gründen erhöhte Anforderungen. Beschwerlich gestaltete sich die Psychotherapie mit Eßsüchtigen bisher auch dadurch, daß eine aussagekräftige psychodynamische Literatur erst in den letzten Jahren erschienen ist(1,2,3,6,7,9,11).

Die Probleme, welche bei der Behandlung der Bulimie auftauchen, sind beispielhaft für das Klientel einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis. Es ist nicht allein der Widerstand oder die elterliche Bindungsmacht, welche die Therapie der Bulimie so schwierig machen, sondern die Vielfalt psychopathologischer Zustandsbilder trägt dazu bei, die Bulimie den gravierenden Erkrankungen zuzuordnen. Angstzustände, ausgeprägte depressive Verstimmungen, auch Suizidgefährdung, andere Suchtformen, Kontaktstörungen und Störungen der Hingabefähigkeit und der Bindungsfähigkeit lassen die Therapie der Bulimie beschwerlich und langwierig werden. Die Patientinnen kommen mit einem erheblichen Leidensdruck und erwarten vom Psychiater kompetente Hilfe. Wie auch andere Suchtkranke sind die Bulimiepatientinnen nicht kurzfristig und lediglich symptomorientiert zu behandeln, sondern die Behandlung erfordert 1 1/2-2 Jahre. Nach unseren Erfahrungen verbirgt sich hinter der Suchthaltung eine persistierende pathologische Symbiose. Die Bulimie ist ein vielfach determiniertes Symptom, das gepaart mit anderen symbiotischen Verhaltensweisen als Konfliktreaktion auf ungelöste Elternbindungen aufzufassen ist. Das Verharren in infantilen Verhaltensweisen und die Unfähigkeit, sich in Richtung Autonomie, freiverfügbare Aggressivität und Sexualität zu entwickeln, die Vielfalt der psychopathologischen Phänomene und vor allem das

Die Bulimie unterscheidet sich von anderen Suchtformen vor allem durch die enge Beziehung zum normalen Eßverhalten (5). Während zum Beispiel der Alkoholiker völlig dem Alkohol entsagen kann, ist es für den Bulimiker äußerst schwierig, zu einem normal gesteuerten Eßverhalten zu kommen, weil Essen zu einer Grundbedingung des Lebens gehört und nicht ohne weiteres gestoppt werden kann. Es sei denn um den Preis des Suizids. Die Magersüchtige hat nach diesem Alles- oder Nichtsprinzip gehandelt und sich weitgehend in die Nahrungsverweigerung geflüchtet. Die völlige Kontrolle über das Eßgeschehen vermittelt einerseits mehr Allmacht, verrät jedoch auch mehr Ohnmacht. Die Bulimikerin hat durch die scham- und schuldhaft erlebten Eßanfälle einen großen Leidensdruck. Ihre Abwehr gelingt ihr glücklicherweise nicht gänzlich, ihre Verweigerung der Weiblichkeit ist weniger vollkommen als bei der Magersüchtigen. Die Vielfalt der Symptome spricht einerseits für die noch vorhandene Lebendigkeit, die sich die Bulimikerin im Vergleich zur extremen Magersüchtigen behalten konnte, andererseits sieht sich der Psychotherapeut der Vielzahl psychopathologischer Phänomene gegenübergestellt.

 

Behandlung der Eßanfälle

Das sehr quälende Symptom der unbeherrschbaren und zwangsartig auftretenden Eßanfälle wird den Patienten zunächst nicht in Ruhe lassen. Dieses ist ihm mitzuteilen, aber auch, daß er das Symptom verlieren wird, wenn er ernsthaft und regelmäßig mitarbeitet. Dennoch ist auf seine Eßproblematik immer wieder einzugehen. Das anfallsartige, zwanghafte Sich-Beschäftigen mit dem Essen und die Eßanfälle selber sind als Symptom unbewältigter Autonomiekonflikte gegenüber einem zumeist mütterlichen Objekt aufzufassen. Die Macht der Bindung und der regressive Sog äußern sich als Widerstand und Festhalten an den Eßanfällen. Bereits nach einigen Monaten wöchentlicher Gruppenpsychotherapie ist aber nicht selten zu hören, daß die Eßanfälle gänzlich oder deutlich nachgelassen haben. In diesem Moment spüren die Patientinnen wie auch der Psychiater eine deutliche Erleichterung und erhalten allein hierdurch eine Belohnung für ihr beidseitiges Bemühen.

 

Andere Suchtformen

Andere Suchtformen wie Alkoholismus, Kleptomanie oder Medikamentenabusus sind wesentlich konsequenter zu unterbinden, wenn nötig auch mit sogenannten therapeutischen Verträgen.

 

Narzißtische Störungen

Unter den Bulimikern findet sich eine relativ hohe Anzahl narzißtischer Störungen, die beruflich erfolgreich, ich-stark, jedoch in hohem Grade kränkbar und Nähe zerstörend sind. Hier ist auf übermäßige Gegenübertragungsreaktionen des Psychiaters zu achten und das Verhalten der Patienten zu deuten.

Eine 30jährige Lehrerin inszenierte zum Beispiel in regelmäßigen Abständen Situationen, die zu einer Gefährdung und Zerstörung der therapeutischen Arbeit führten. Sie hatte die empfindlichen Stellen ihres Psychiaters erspürt und versuchte immer wieder, ihn mit neuen, versteckt abwertenden Bemerkungen zu kränken und die entstandene Nähe zu stören. Es waren Fragen nach seiner Befindlichkeit während der Sitzung und nach seiner Familie. Die Kränkungsversuche sind als Widerstand und Abwehr einer nahen Beziehung zu analysieren. Lediglich die Gewißheit, daß beide diese Situationen zu meistern und auszuhalten haben, lassen die Psychotherapie narzißtisch gestörter Patienten zu einem günstigen Ende finden.

Bulimikerinnen neigen besonders zu Beginn der Therapie dazu, sich in depressiven, jammernden Worten über die immer noch bestehende Symptomatik zu beklagen. Den Selbstzweifeln ist mit Zuversicht und Festigkeit zu begegnen. Selbst kleine Erfolge sind zu loben und als Fortschritt hervorzuheben. In der Gruppensituation wirken sich Erfolge eines Patienten günstig auf die Motivation aller aus.

 

Traum aus der Vogelperspektive

Eine 27jährige Lehrerin, die seit 6 Jahren unter bulimischen Attacken litt, erzählte zu Beginn ihrer Therapie einen Traum, der ihre nazißtischen Störung mit Selbstüberhöhung, Idealisierung des Therapeuten und anschließender Abwertung bildhaft schildert:

"Ich beobachte aus der Vogelperspektive auf einem Berg stehend, wie ein Kind durch Wald, Gebüsch und Wiesen läuft. Es steht vor einer Berghöhle, die es zögernd betritt. Plötzlich bin ich das Kind. Ich bin dort, um einen Kobold zu treffen, den ich berühren soll, damit ich wachse. Ich bin enttäuscht, daß er selbst so klein ist. Nachdem ich ihn berührt habe, spüre ich zwar nicht, daß ich größer werde. Ich sehe aber, daß meine Hosenbeine immer kürzer werden."

Die Angst der Patientin, ihre narzißtische Einsamkeit zu verlassen und sich in therapeutische Hilfe zu begeben, ist begleitet von Zweifeln und Abwertungen. Sie traut ihren eigenen Fähigkeiten nicht und denen des Therapeuten, der durch den Kobold symbolisiert wird. Die Schwierigkeit, die Abwertungsmechanismen auszuhalten und zu deuten können gerade bei narzißtisch gestörten Bulimiepatienten erheblich werden.

 

Partnerschaftskonflikte

Auch Bulimikerinnen neigen dazu, Schwierigkeiten mit ihrem Partner allein auf dessen Unfähigkeit und Fehler zurückzuführen und sich selber als Opfer der Beziehung zu empfinden. Eigene Passivität, eigene Ohnmacht gegenüber einem verschlingenden und grenzüberschreitenden Objekt werden auf den Partner projiziert. Dieser erhält damit besonders bei narzißtisch gestörten Patienten vor- wiegend böse und dämonische Charakterzüge. Daher neigen Bulimikerinnen leicht zu Trennungsgedanken, die jedoch eine Flucht vor inneren, negativ besetzten Objektbildern darstellen.

Abwertungen des Partners, Hingabestörungen und Störungen der Sexualität treten als Behandlungsthemen im Verlauf der Therapie auf und sind als Symptom einer persistierenden Symbiose zu interpretieren. Dem Patienten ist der innere Machtkampf zwischen Autonomie und Heteronomie anhand von Verhaltens- und Traumanalyse immer wieder zu vergegenwärtigen, wobei auf Seiten des Therapeuten auch heftige Gegenübertragungsgefühle auftreten können. Diese richten sich gegen die pathologischen Symptome des Patienten und nicht gegen sein Selbst. Der Therapeut hat sich mit den gesunden Anteilen des Patienten zu verbünden und ihn in seinem Kampf gegen verschlingende und zerstörerische Objektbilder zu unterstützen und ihm Möglichkeiten aufzuzeigen, sich adäquat abzugrenzen oder hinzugeben. Die elterliche Bindungsgewalt verliert im Verlauf der Therapie an Zerstörungskraft und Macht. Aggressivität und Sexualität werden frei von Schuld erlebt, nachdem der Patient sich den Angst auslösenden Situationen im Schutz der Therapie und der Gruppe auseinandergesetzt hat.

 

Weitere psychiatrische Symptome

Bulimie-Patientinnen mit Störungen der Ich-Funktion, mit Angstanfällen, mit ausgeprägten depressiven Verstimmungen sind stützend und im Sinne der Ich-Psychologie zu führen und zu behandeln. Der Psychiater erscheint bei diesen Krankheitsbildern auch als Schutz und Sicherheit gewährende Leitfigur, die den Patienten durch die Welt des Unbewußten begleitet. Die Loslösung von elterlichen Objekten ist stets mit Angst verbunden, die aus Trennungs- und Gewissensangst besteht.

Auch aggressive, zwangsartig auftretende Phantasien beunruhigen die Patienten und führen zu einer erhöhten Ängstlichkeit und Depressivität. Der Psychiater verweist auch hier mit Gewißheit und Gelassenheit, daß auch diese Symptome vorübergehen und für den Patienten und seine Umwelt als ungefährlich zu beurteilen sind.

 

Suizidalität

Die Behandlung von Suizidalität stellt eines der anspruchsvollsten und schwierigsten Krankheitsbilder dar, das der Psychiater zu behandeln hat. Bei den Bulimiepatientinnen ist stets nach Suizidalität zu fragen. In unserem Patientengut stand die Suizidproblematik jedoch nicht im Vordergrund, so daß ein Wechsel zwischen Ohnmachtsgefühlen und Allmachtsansprüchen, wie sie beim Therapeuten unter der Behandlung von Suizidgefährdeten auftreten können, nicht auftrat (12, 14).

 

Der Umgang mit dem Widerstand als einem Zeichen elterlicher Bindungsgewalt

Die Bulimie als Suchtkrankheit und Symptom einer pathologischen, persistierenden Symbiose ist nach unseren Erfahrungen durch konsequente Verhaltensanalyse und Traumanalyse in der Gruppenpsychotherapie erfolgreich zu behandeln. Der Widerstand des Patienten kann erhebliche Formen annehmen und gar zu einem Abbruch der Therapie führen, wie es bei Patienten mit zu großer Nähe-Angst immer wieder geschieht. Die Angst, erneut von einem elterlichen Objekt, dem Therapeuten, verschlungen zu werden, die Angst, den Schritt zur Selbständigkeit zu wagen, läßt die Therapie von symbiotisch gebundenen Bulimikerinnen manchmal zu einer Gratwanderung werden. Gewinnen die elterlichen, die regressiven Anteile Oberhand, wird die Therapie in Zweifel gezogen und abgewertet. Der Therapeut muß sich dieser Mechanismen immer wieder bewußt werden. Die Arbeit am Widerstand, die dabei auftretenden Gegenübertragungsprobleme mit Ärger und Wut gehören zu den schwierigen und auch heiklen psychotherapeutischen Situationen, die es zu meistern gilt (4,8). Wenn der Therapeut sich rechtzeitig abgrenzt, er symbiotisches Verhalten konfrontiert und die unbewußten Konflikte analysiert, so hat er bei der Bulimie in den meisten Fällen einen guten therapeutischen Erfolg.

Das Ziel der Therapie ist erreicht, wenn die Patienten ihre eigene Identität gefunden haben, sich ihres Selbst bewußt geworden sind und über Sexualität und Aggressivität gekonnt verfügen können. Außerdem sollten sie in der Lage sein, auch nach Beendigung der Therapie konstruktiv mit Konflikten umzugehen.

Literatur

  1. Berger, Mathias: Zum Stand der Bulimie-Forschung, Fundamenta Psychiatrica 3 (1989), S. 12-8
  2. Bochnik, Hans-J.: Nervenärztliche Praxen in der Bundesrepu- blik Deutschland, Strukturen, Kompetenzen, Patienten, Ergebnisse der sogenannten Nervenarztstudie, Psycho, 10 (1989), S. 728/19 bis 738/24
  3. Feiereis, Hubert: Diagnostik und Therapie der Magersucht und der Bulimie, Marseille Verlag, München (1989)
  4. Fenichel, Otto : Psychoanalytische Neurosenlehre, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau (1974) Bd. 1, S. 45-47
  5. Ferstl, Roman: Determinanten und Therapie des Eßverhaltens, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York (1980)
  6. Fichter, Manfred, M.: Magersucht und Bulimia, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo (1985)
  7. Flöttmann, Holger, Bertrand: Angst -Ursprung und Überwindung, Kohlhammer Verlag, Stuttgart (1993), 3. Aufl., S. 67-81
  8. Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst, GW VI, Studienausgabe, Fischer, Frankfurt a. M. (1971), S. 295-298
  9. Hirsch, Mathias: Körper und Nahrung als Objekte bei Anorexie und Bulimie, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 38 (1989), S. 78-82
  10. Kämmerer, Annette, Klingenspor, Barbara (Hrsg).: Bulimie, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln (1989)
  11. Meermann, Rolf, Vandereycken, Walter: Therapie der Magersucht und Bulimia nervosa, de Gruyter, Berlin, New York (1987)
  12. Reimer, Christian: Die suizidale Krise, Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt, 11 (1987), S.704-712
  13. Schmidt, Ulrike, Marks, Isaac: Exposure plus Prevention of Bingeing vs. Exposure plus Prevention of Vomiting in Bulimia Nervosa, The Journal of Nervous and Mental Disease, Vol. 177 No. 5 (1989), S. 259-266
  14. Weisbach, Christian-Rainer: Macht und Ohnmacht des Helfers, Suidzidprophylaxe 16 (1989), S. 117-129

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