Der psychotherapeutische Weg im Traum

Traumdeutung - über die Verständlichkeit von Symbolen

 

 

 

Die Sprache der Träume ist universal. Sie ist sowohl an die subjektiven Erfahrungen des einzelnen Träumers geknüpft als auch an allgemeingültige Regeln und Symbole. Träume bedienen sich einer bildhaften, oft scheinbar unlogischen Ausdrucksweise. Deckbilder, Verschiebungen, Verdichtungen, das Vertauschen von Personen und Geschlechtern machen die Sprache des Unbewußten interessant, erschweren aber auch ihren Zugang. Es gibt einige Menschen, die von Natur aus ein erstaunliches Verständnis für die Welt der Träume aufweisen.

Der Therapeut kann mittels seiner Intuition und seines Wissens die Sprache des Unbewußten entschlüsseln helfen. Auch die Einfälle des Träumers sind von großer Bedeutung. Ihn bewegende Themen sind mit dem Traum in einen Zusammenhang zu stellen. Das können Ereignisse des Vortages sein, aber auch größere, sich anbahnende Entwicklungen, die dem Betroffenen bewußt werden.

 

Träume als diagnostischer Wegweiser

Träume weisen einen direkten Weg in die bisher unbewußte Konfliktwelt eines Menschen. So kann ein Traum – manchmal schon der erste - das unbewältigte Lebensproblem eines Menschen aufzeigen. Aus den Träumen läßt sich die aktuelle Situation des Träumers erkennen. Träume weisen einen diagnostischen und therapeutischen Weg.
Es geht in der Therapie darum, die Aussagen der Träume mit dem äußeren Verhalten und den Berichten eines Patienten zu vergleichen. Es gibt nämlich häufig Diskrepanzen zwischen der Selbstwahrnehmung und der Aussage des Traumes.

 

Wie beginne ich eine Traumdeutung?

Ich lese mir den Traum in Ruhe durch. Dann beginne ich gleich mit den ersten Sätzen innerlich mit meiner Traumdeutung. Ich lasse die Worte auf mich wirken mit freischwebender Aufmerksamkeit. Ich gebe meinen Gedanken und Assoziationen im Problemkreis des Traumes freien Lauf. So ist es möglich, schon zu Beginn des Traumes seine Bedeutung zu erfassen, die ich jedoch bei Unstimmigkeiten wieder korrigiere. Zunächst erfasse ich den Traum in seinen wesentlichen Handlungsabläufen. Dann stelle ich einen Zusammenhang her zwischen dem Traum und der jetzigen Situation. Ich versuche, den Konflikt zu erkennen, den der Traum offenbart. Je besser ich die Lebenssituation gegenwärtig habe, desto eher gewahre ich den aktuellen Konflikt oder die Aussage des Traumes.

 

Wann ist eine Traumdeutung richtig?

Es ist nicht erforderlich, alle Symbole eines Traumes zu verstehen. Es gilt, die Handlungs- und Entwicklungslinien zu erkennen. Symbole dürfen nicht überinterpretiert werden, da sonst die Hauptaussage des Traumes verloren gehen kann. Wichtig ist es, die wesentliche Botschaft des Traumes zu verstehen. Oft stellt sich ein Gefühl der inneren Zufriedenheit, die sich aus der Erkenntnis ergibt.

 

Schwierigkeiten bei der Traumanalyse

Für den Erfolg einer Psychotherapie ist es nicht entscheidend, daß jeder Traum gedeutet wird. Wichtig ist, daß der Träumer den Traum wahrnimmt und die Mehrheit der Träume versteht. Für mich als Therapeuten ist es manchmal schwierig, den Sinn eines Traumes zu erfassen, wenn ich mein Gegenüber und die Eigenarten seines Unbewußten noch nicht genug kenne. Dann halte ich mich mit einer Deutung zurück oder sage offen, daß der Traum im Moment nicht verstehbar ist. Doch das kommt eher selten vor.

Vom Symbolischen zum Konkreten

Zu Beginn der Behandlung sind Träume nicht selten von einer tiefen Symbolik geprägt. Erst im erfolgreichen Verlauf der Behandlung träumen die Menschen konkret ihre Konflikte mit den früheren oder jetzigen Beziehungspersonen aus. Träume weisen oft eine mehrgeteilte Struktur auf, die einem Drama ähnlich ist. Sie drücken sich im ersten Traumabschnitt symbolisch aus, während sie im folgenden oder dritten Abschnitt konkreter werden und erst hiermit eine Interpretation des Vorangegangenen, manchmal Schwerverständlichen, ermöglichen. Sie behandeln also mit unterschiedlichen Worten und Bildern das gleiche Thema im zweiten und dritten Teil.

 

Verfremdung im Traum

Fremdheit in Träumen weist auf Abschiednehmen und die Aufgabe von emotionalen Beziehungen hin. Diese werden uns fremd. Das Gefühl des Fremdseins im Traum heißt auch, daß sich der Träumer einer neuen unbekannten Welt öffnet. Das geschieht häufig unter Schuldgefühlen, welche die Angst vor dem Fremden ausdrücken.

 

Die Verkehrung ins Gegenteil

Träume überraschen uns häufig damit, daß sie das Gegenteil dessen aussagen, was sie vordergründig darstellen. Ein endloses Bemühen im Traum kann heißen: "Gib das Ziel doch auf! Es sind allein die Schuldgefühle, die dich immer wieder veranlassen, etwas zu flicken oder um Hilfe zu rufen, weil dein Vater verunglückt ist." Oft fehlt dem Träumer der Mut oder das Wissen darum, die Gegensätzlichkeit aufzuspüren.

 

Träume in der Gruppentherapie

Das Unbekannte ist verstellt durch Verbote, Angst, Scham und Schuldgefühle. Selbst wenn ein Traum zu neuem Denken, Handeln und Fühlen aufrufen will, haftet der Träumer noch in seiner alten Welt und hat Schwierigkeiten, die neue Welt zu entdecken. Der Träumer sieht den Balken im eigenen Auge nicht. Seelische Konflikte lassen sich beim anderen leichter wahrnehmen als bei sich selbst.

Wenn jemand einen Traum erzählt, gibt er sein Innerstes preis. Er schafft damit Intimität, ein Wort, welches das Innerste heißt. Ein einziger Traum kann den Lebensplan eines Menschen und seine aktuelle Problematik offenbaren. Träume sind authentisch. Aus Träumen spricht das Unbewußte, das sich an uns wendet. Sie sind eine unverfälschte Botschaft aus der Tiefe seiner Seele.

Träume bedienen sich einer deutlichen, oft drastischen Sprache. Sie beeindrucken und überraschen uns, weil sie echte Gefühle emporbringen und etwas Geheimnisvolles, bisher Verborgenes in uns ansprechen. Wir spüren, daß die Träume uns auf dem Weg zu unserem Selbst behilflich sein wollen.

In der Gruppentherapie sorgen Träume für Struktur und Lebendigkeit. Eine erfolgreiche Gruppentherapie bezieht ihre Kraft und Stärke in hohem Maße aus den erzählten Träumen, die das Unbewußte aller Gruppenmitglieder anregen. Träume schaffen eine enorme emotionale Dichte und Nähe zu dem Träumer, aber auch zu dem eigenen unbewußten Konfliktbereich des Zuhörers.

Wenn jemand seinen Traum nicht deuten kann, bitte ich die anderen Gruppenmitglieder, ihre Einfälle zu dem Traum mitzuteilen. Oft erkennt einer von ihnen den Konflikt des Traumes. Stimmt die Traumdeutung, so vernehmen wir nicht selten ein Lächeln der Erkenntnis oder der Freude auf dem Gesicht des Träumers.
Indem jemand vor den Gruppenmitgliedern seine Träume erzählt, lernt er, seine Ängste vor dem Sprechen zu überwinden und sich mit seinen Problemen wichtig zu nehmen. Viele haben vor dem Erzählen von Träumen Herzklopfen, sie sind aufgeregt und unruhig. In diesen Symptomen zeigen sich Schuldgefühle und Ängste, die sie bereits durch das Äußern eines Traumes abbauen können.

Es ist wichtig, seine Träume in der Gegenwartsform wiederzugeben. Wir haben dadurch einen besseren Zugang zu dem Traumgeschehen und den Gefühlen, die beim Erzählen auftauchen.

 

 

Träume in der Partnerschaft

Es ist für einen Partner gut zu wissen, welchen Traum der andere hat. Träume erhöhen den Grad an Vertrautheit und Ehrlichkeit in der Partnerschaft. Der Partner weiß somit um die Entwicklung des anderen und um seine momentanen Schwierigkeiten. Beide können konstruktiv daran arbeiten. Ich fordere Paare dazu auf, sich morgens beim Frühstück die Träume zu erzählen und zu deuten. Neben der Förderung der Selbsterkenntnis und der Intimität zwischen den Partnern gelingt es nebenbei, das Frühstück interessant zu gestalten.

 

Über das Aufschreiben von Träumen

Das schriftliche Wort hat ein hohes Gewicht. Niedergeschriebene Träume sind Briefe an uns selbst, in die wir bei Bedarf hineinschauen können. Träume sind festzuhalten, weil sie schnell in Vergessenheit geraten. Ein Traum sollte vor dem Aufstehen erinnert werden. Die selbständige, schriftliche Deutung schult die Fähigkeit, Träume zu verstehen. Die Frage: "Was sagt mir der Traum mir zu meiner jetzigen Lebenssituation?" führt auf den richtigen Weg.

 

Das Ausbleiben der Träume

Viele erzählen im Erstgespräch: "Ich träume." Doch mit Beginn der Therapie versiegen bei Manchen die Träume: "Ich kann im Moment meine Träume nicht erinnern." Der Träumer hat keine innere Erlaubnis, sich an seine Träume zu erinnern. Die verinnerlichten Eltern gestatten ihm nicht, den Weg zu seinem Selbst zu beschreiten, indem er dem Therapeuten sein Innerstes preisgibt. Nach einiger Zeit kommen die Träume wieder.

 

Der Aufbau eines neuen Traumthemas

Ob ein Traum faszinierend ist und von einer großen seelischen Tiefe zeugt, oder ob er eher flach erscheint und mit dem Tagesgeschehen behaftet, hängt von dem Entwicklungsstand des Träumers ab. Nicht alle Menschen träumen ihre Probleme und Konflikte vielgestaltig und bunt aus. Es bedarf auch einer Veranlagung und Begabung, lebendige Träume hervorzubringen. Nachdem ein Konfliktbereich bewußt gelöst worden ist, herrscht manchmal für Tage oder Wochen Ruhe. In der traumfreien Zeit taucht ein bislang unbekannter Persönlichkeitsanteil empor.

 

Wiederkehrende Träume

Wiederholt sich ein Traummotiv über Monate und Jahre, so hat der Träumer einen wichtigen Konflikt nicht gelöst.

 

Träume und Verhaltensänderung

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Als nächstes erfolgt die Verhaltensänderung. Träume offenbaren zwar die innere Konfliktwelt und stellen einen wertvollen Bestandteil der Psychotherapie dar; Träume sind jedoch kein Selbstzweck, welcher der Ergötzung oder allein dem Erzählen dient. Psychotherapie ist immer auch Verhaltensänderung. Es nützen die schönsten Träume nichts, wenn nicht der Wille vorhanden ist, sich zu erziehen und Fehlverhalten abzustellen. Änderung im Seelischen braucht seine Zeit. Dennoch ist darauf zu achten, daß die Patienten sich nicht damit begnügen, allein ihre Träume gedeutet zu wissen. Die Traumdeutung ist mit der Bereitschaft zu verbinden, neue Wege zu gehen.

 

Träume und Hausaufgaben

Aus den Träumen ergeben sich Hausaufgaben. Diese fördern den therapeutischen Prozeß. Sie werden schriftlich gefertigt, da das schriftliche Wort mehr gilt als das mündliche und es reiflicher Überlegung bedarf, welche Worte gesetzt werden. Die Themen ergeben sich aus dem Konfliktmaterial, das in den Träumen enthalten ist.

 

Der psychotherapeutische Prozeß

Ab einem gewissen Schweregrad der psychosomatischen oder psychiatrischen Erkrankung ist es nicht möglich, sich selbst von dem Leiden zu befreien. Der psychotherapeutische Prozeß beginnt damit, daß die Leidenden sich auf Grund ihres Leidensdruckes entschließen, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Sie versprechen sich von dieser Person kompetente Hilfe. Gleichzeitig haben die Kranken aber auch Angst vor einer Psychotherapie. Daß der psychotherapeutische Prozeß mit Gewissensangst, Trennungsangst und Schuldgefühlen einhergeht, zeigen viele Träume. Auch Depression und Zweifel sind auszuhalten. Zweifel und depressive Stimmungen können Zeichen der seelischen Entwicklung sein. Psychotherapie erfordert Mut und Ehrlichkeit. Grenzverletzende und verschlingende Elternfiguren werden wieder wach. Aus Angst Verdrängtes wird bewußt und neu strukturiert.

 

Wirkfaktor Arzt

Die Beziehung zum Arzt, die Einstellung zur Psychotherapie, das mit der Änderung verbundene Leiden und Hoffen spiegeln sich in vielen Träumen. Der Seelenarzt oder der Psychotherapeut wird zu einer wichtigen äußeren und inneren Leitfigur. Der Entschluß und der Wille, sich in der Zusammenarbeit mit dem Therapeuten zu ändern, tragen zu dem Heilungsprozeß bei. Der Arzt in der Funktion als Katalysator fördert den psychotherapeutischen Prozeß. Er weckt Vertrauen durch Empathie, Wissen und Ausstrahlung. Er nimmt auch eine aktive Rolle in der Behandlung ein.

Psychotherapie heißt Veränderung von Verhaltensweisen und inneren Einstellungen. Die Wandlung wird dadurch erleichtert, daß dem Therapeuten ein hohes Maß an Vertrauen und Macht zugeschrieben wird. Eine intensive und emotional geladene Beziehung ist ein wesentlicher Wirkfaktor der Psychotherapie. Auch das Bekämpfen der Hoffnungslosigkeit des Patienten gehört hierzu. Die Idealisierung, aber auch die Abwertung und Verteufelung des Therapeuten sind bekannte Muster des psychotherapeutischen Prozesses. Der Therapeut gibt Erlaubnis, er fordert auf, er ermahnt, er spielt auch die Rolle des Nacherziehers, vor allem aber begleitet er den Patienten beschützend, deutend und wegweisend. Er läßt ihn Erfahrungen machen auf dem Weg durch das Reich des Unbewußten. Er gibt ihm Rat, Zeit oder Druck, sich zu entwickeln.

 

Die Ursachen an der Wurzel packen

Der Traum einer 34jährigen, verheirateten Ärztin spiegelt ihre seelische Erkrankung und ihren Entschluß, diese zu beseitigen. Sie leidet seit einem Jahr unter Ängsten und depressiven Stimmungen. Sie hat sich nach langem Zögern für eine Psychotherapie entschieden.
"Ich stehe auf einer Wiese und sehe dort zwischen den Gräsern riesige Unkrautpflanzen wuchern. Ich fange an, sie auszureißen. Dabei entstehen große Krater im Boden. Ich nehme mir vor, sie später mit Gras zu füllen. Obwohl die Unkrautpflanzen Wurzeln haben, die mehrere Meter lang sind, gelingt es mir, auch diese zu entfernen und ich freue mich darüber, daß ich es schaffe, die Wiese davon zu befreien."
Ihre Seele ist überwuchert von Unkraut, ihrer Krankheit. Die Ärztin packt die Ursachen ihrer Niedergeschlagenheit an der Wurzel und räumt sie aus. Sie ist zuversichtlich und hoffnungsvoll, es zu schaffen.

 

Ein Lahmer wird gehend

Ein 30jähriger Apotheker leidet unter Spannungskopfschmerzen und einer Angstneurose. Diese schränkt seinen Lebenskreis ein. Er faßt den Entschluß, sich in Psychotherapie zu begeben, nachdem er einen Artikel über die Heilung von Ängsten gelesen hat. Nach einjähriger Behandlung in der Gruppe fühlt er sich wieder in der Lage, ein aktives Leben zu führen. Doch er vermeidet es weiterhin, allein in eine Stadt zu fahren. In dieser Phase der Therapie träumt er:
"Ich befinde mich in einem Kreis vieler Menschen. Ich bin linksseitig gelähmt. Es heißt, nie und nimmer würde ich wieder gesund werden. Aber ich davon überzeugt bin, daß ich wieder gesunde. Obwohl alle es bezweifeln und die Ärzte es nicht für möglich halten, beginne ich damit, mich ein wenig zu bewegen. Das linke Bein ist schwarz und faul, doch es füllt sich allmählich mit Leben. Das Blut fließt wieder hindurch. Plötzlich kann ich alleine laufen. Ohne fremde Hilfe. Zwar noch schleppend, aber es geht. Ich fühle mich wohl."
Der Traum schildert die massive Einschränkung der inneren und äußeren Bewegungsfähigkeit des Apothekers. Die Stimmen der anderen stehen für seine eigene Hoffnungslosigkeit. Doch es kommt Leben in seine angstneurotische Lähmung hinein. Das Blut – hier Symbol für seine Lebensenergie – fließt wieder.

 

Alles ist schwarz und staubig

Die Beziehung zu seinem Arzt und die hoffnungsvolle Einstellung zur Psychotherapie spiegeln sich in Träumen eines Physikstudenten, der unter Fremdheitsgefühlen und mangelnder Erlebnistiefe leidet. Zu Beginn seiner Therapie berichtet er diesen Traum:
"Ich komme durch eine dunkle Gegend, verstummte Menschen arbeiten dort, schaufeln Sand, alles ist schwarz und staubig. Plötzlich ist da ein großes Haus, wie eine Insel, rundherum eine Hecke. Über dem Grundstück scheint die Sonne. An den Abzäunungen des Grundstücks sind Gebläse montiert, die die schwarze und staubige Luft wegblasen. Deshalb scheint dort die Sonne. Auf dem Grundstück ist eine feierliche Gesellschaft versammelt, ich gehe mit zwei anderen Personen auf einen Mann zu, der dort sitzt inmitten der anderen. Wir umzingeln den Mann und reden auf ihn ein."
Der Träumer setzt sich mit seinen depressiven Anteilen, der dunklen Gegend, seiner Verstummtheit und der Mühsal der psychotherapeutischen Arbeit auseinander. Er findet aus seiner Depression, indem er neue Gefilde aufsucht. Er begibt sich in ein Haus, das ihm inmitten der Dunkelheit wie eine sonnige Insel erscheint. Das Haus seines Therapeuten dient ihm als Projektionsfeld seiner eigenen, heilenden Seelenkräfte. Die Sonne symbolisiert seine Hoffnung auf Bewußtwerdung und Lichtung seiner Depression. Er schließt sich im Traum einer Therapiegruppe an und kommt mit seinem Arzt - dem Mann am Ende des Traumes - ins Gespräch.

 

 

Der Meister formt mein Gesicht

Der Student hat einen weiteren Traum, der seine Identitätsfindung spiegelt:
"Ich befinde mich in einem großen Saal. An einer Längswand steht eine Reihe von Stühlen. An der Wand hängen vor jedem Stuhl Spiegel. Es ist wie in einem teuren Friseursalon. Ein wenig wirkt die Szene fremdartig und auch komisch. Ich weiß, ich befinde mich in einer Klinik. Es gibt auch den Friseurmeister oder den Künstler auf seiner Ausstellung oder den Chirurgen oder Chefarzt. Links neben mir sitzt auf einem dieser Stühle eine mir vertraute Person. Sie hat eine weiße Maske auf dem Gesicht. Das ist auch der Sinn dieses Salons. Es werden Abdrücke von dem Gesicht genommen. Hin und wieder kommen neue Personen herein. Auch ich werde mir einen Abdruck von meinem Gesicht nehmen lassen. Vorher spreche ich mit dem Meister, den ich einerseits kenne, gleichzeitig aber auch nicht. Während des Gespräches gehen wir hinter die Spiegel. Hier entscheide ich mich, mir eine Maske auflegen zu lassen. Der Meister geht kurz weg, um das Material für die Maske zu holen. Als er wiederkommt, habe ich die Augen geschlossen, denn er steht plötzlich vor mir, hat einen sonderbar geformten Hammer in der Hand und hämmert auf meinem Gesicht, hauptsächlich auf meiner Nase. Zunächst bin ich erschrocken, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich habe Angst, daß es weh tut und will Einspruch erheben; doch bevor ich etwas sagen kann, merke ich, daß es nicht schmerzt, sondern nur sehr unangenehm ist. Ich sehe den Meister von innen durch meine Augen draußen hämmern, als hätte ich mich in meinem Kopf in das Zentrum zurückgezogen, wie in eine Höhle. Mein Gesicht ist innen hell und rot und glühend heiß, Schweiß bricht mir aus. Ich lasse ihn machen, denn ich vertraue ihm. Es geht auch alles sehr schnell, schließlich legt er mir diese Maske auf. Sie wirkt angenehm kühlend und entspannend. Danach geht er. Bald kommt ein junger Angestellter. Er sagt, daß ich jetzt eine gutaussehende Nase hätte. Nach der Operation könne ich mich erst mal erholen. Ich solle ihm jetzt folgen. Wir gehen sehr viele Stufen herunter. Erst bin ich etwas unsicher auf den Beinen, doch bevor wir unten ankommen, fühle ich mich gesund. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, diese geheimnisvolle Klinik liegt tief unter der Erde. Doch als wir am unteren Ende der Treppe ankommen, treten wir hinaus ins Freie. Vor uns erkenne ich den Kleinen Kiel. Er sieht zwar anders aus als in der Wirklichkeit, doch ich weiß, daß er es ist, und daß wir in Kiel sind. Es ist Tag, das Wetter etwas diesig und die Stadt geht ihren Alltagsgeschäften nach.
Ich schaue mich um, als wäre ich lange Zeit in einer fremden Welt gewesen und sehe die Stadt nun wieder, oder als hätte ich mir nur aus Erzählungen ein Bild von ihr gemacht und sehe sie nun tatsächlich vor mir. Ich fühle mich wie neugeboren und kann nur noch nicht glauben, daß das, was ich hier erlebe, wahr ist. Mit einem sonderbaren Gefühl des Wissens und auch des Abschiednehmens sage ich zu dem jungen Angestellten: 'Wer weiß schon, daß unter diesem Gebäude diese riesige unterirdische Klinik liegt. Ich weiß, daß sich diese stille, geheimnisvolle, aber betriebsame Unterwelt weit über das Grundstück des Hauses erstreckt, wahrscheinlich über die ganze Stadt. Ich weiß auch, daß nur wenige Menschen sie kennen und daß ich mit niemanden darüber reden kann oder werde oder will. Es ist, als liegt ein Abenteuer hinter mir, das mir niemand glauben wird. Ich fühle mich ein wenig erschöpft, traurig, ruhig, nachdenklich, aber innerlich gut und fest."

Der Student träumt von seinem ihn behandelnden Arzt als Gestalter seiner Seele, dem er die Attribute eines Friseurmeisters, eines Künstlers, eines Chirurgen, eines Chefarztes und eines Meisters erteilt. Der Meister nimmt Maskenbilder, Symbol der menschlichen Identität. Es handelt sich bei diesen Traumfiguren um Eigenschaften seiner eigenen heilenden Kräfte, die er in sich wirken läßt, aber auch um seinen Psychiater. In der Psychotherapie gewinnt er mit dessen Hilfe an Konturen, an Männlichkeit, die durch die Symbole des Hammers und der Nase versinnbildlicht werden. Spiegel - Zeichen für Selbsterkenntnis - sind ihm dabei dienlich. Der Abstieg in die Tiefe der unterirdischen Klinik deutet darauf hin, daß der Student an den Ort ursprünglicher Unbewußtheit zurückkehrt, um dort Heil und Befreiung zu erfahren.


Zweifel an der Psychotherapie

Der Psychotherapeut im Traum steht für die innere, heilende Seelenfigur des Patienten, der er sich vertrauend überläßt. Er spiegelt aber auch Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen. Das Unbewußte setzt die seelische Heilung dem Geschehen in der instrumentellen Medizin gleich. Auch der psychotherapeutische Prozeß bereitet Schmerzen. Die Träume der Patienten offenbaren ihre Abwehr, ihren Widerstand oder die Angst vor Psychotherapie. Das Sich-Sträuben gegen eine Spritze im Traum bedeutet z. B. bei Magersüchtigen nicht allein die Abwehr von männlicher Sexualität, sondern auch das Ablehnen psychotherapeutischer Einflußnahme. Psychotherapie wird im Traum nicht selten als Narkose oder gar als Tod erlebt. Der Tod als Symbol der Wandlung erzeugt Angst, an die der Träumer herangeführt wird.

Eine Lehrerin ist zum zweiten Mal in ihrem Leben an einer Erschöpfungsdepression erkrankt. Sie hat sich für ihre Mutter und ihren Sohn, der unter einer Erbkrankheit leidet, aufgeopfert. Gegenüber einer konfliktorientierten Psychotherapie zeigt sie sich zwar aufgeschlossen, sie empfindet aber auch Angst vor der inneren Wandlung, wie folgender Traum zeigt: "Ich werfe einen Blick in einen Operationssaal. Auf dem Tisch liegt der Kranke, rundherum stehen die Chirurgen. Der Operierte ist bis auf die Wirbelsäule aufgeschnitten und aufgeklappt. Ich frage: 'Müssen Sie den so weit aufschneiden? Bekommen Sie ihn auch wieder zusammengenäht?'" Die Lehrerin hat Angst, ihre Seele zu öffnen. Sie befürchtet die Bearbeitung ihrer Abwehr und ihrer Schuldgefühle. So äußert sie Zweifel an der Psychotherapie im Traum wie auch in der Wirklichkeit. Es fällt ihr schwer, für sich etwas zu tun.

 

Abschied von der Psychotherapie

Der Ablösungs- und Reifungsprozeß dauert bei Patienten mit einer mittelschweren Angstneurose zwei bis drei Jahre. In dieser Zeit haben sie die wesentlichen Konflikte bearbeitet, die ihre Angstsymptomatik auslösten. Auch haben sie eine ausreichende Ich-Stärke und tiefenpsychologische Kenntnisse erlangt, so daß sie Angst besser aushalten und einordnen können. Hiervon zeugt der Traum eines Apothekers am Ende seiner Therapie:
"Die Tochter einer Kundin befragt mich, wo sie ihre Ängste loswerden kann. Ich gehe mit ihr in eine Buchhandlung. Der Buchhändler empfiehlt uns viele Bücher. Wir wollen das Buch "Angst - Ursprung und Überwindung von Dr. Flöttmann". Der Händler beugt sich unserem Wunsch. Durch die Wand gehen wir in einen Therapieraum. Dort sitzen drei Klassenkameraden aus meiner Kindheit, der störrische Bilger, Sigrid und Waltraut, die beide schon eine Ehe hinter sich haben. Ich sage: 'Es ist richtig, daß ihr hier seid!' Mir hat es damals auch geholfen. Da sitzt der alte Doktor, alt und grau. Dann finde ich mich in der Kirche im Vorraum wieder. Wir diskutieren über Gott und die Welt: 'Am Anfang war das Wort, die Tat.' Ein Pastor neigt sich zu mir: Sie haben erkannt, was ihre Welt im Innersten zusammenhält!'"

Der Apotheker ist nach gelungener psychotherapeutischer Behandlung daran interessiert, seine positiven Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben. Seinen Doktor läßt er im Traum alt und grau erscheinen, Zeichen des Abschieds und des beginnenden Abstands zur Psychotherapie. Ein biblisches Wort wandelt er dahingehend ab, daß Wort und Tat eine gleichwertige Bedeutung erlangen. Er hat seine Handlungsfähigkeit wiedergefunden, nachdem er den Gang durch das Reich des Unterbewußten gewagt hat und dort Kenntnisse über sich und seine Familie errungen hat. Der Abschied von der Psychotherapie beinhaltet die Lösung vom Therapeuten und von der Gruppe. Wenn die Behandlung geglückt ist, hat dieser Lebensabschnitt eine außergewöhnliche Bedeutung für den Betreffenden. Fortan gilt es, den Kontakt zum Unbewußten zu behalten und seine Probleme selber zu lösen.

Literatur beim Verfasser

Auszug aus
Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann
" Träume zeigen neue Wege"

ISBN 978-3-842371-97-2

 

Träume zeigen neue Wege.

 

 

Autor: Dr. med. Holger Bertrand Flöttmann
Dieser Artikel ist erschienen im Praxismagazin Nr. 4 (2010), S. 6-15

 

Die Bilder stammen aus Dantes Göttlicher Kommödie, der Ausgabe "Dante Urbinate" der Bibliotheca des Vaticana. Das Buch erschien bebildert 1480.

 

 

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