Neue Thesen zum Borderline-Syndrom

New theses about the borderline syndrome

Kurzfassung:

Das Borderline-Syndrom stellt nach der Literatur eine schwerwiegende Erkrankung dar, deren postulierte Genese von den klinischen Beobachtungen abweicht, die in einer psychiatrischen Praxis an 561 Patienten festgestellt wurden. Die Borderline-Symptomatik entspricht weitgehend symbiotischem Verhalten, das in der Mehrzahl der Fälle auf einer übermäßigen Bindung an ein elterliches Objekt beruht. Anhand des Symbiosekonzeptes wird das sogenannte Borderline-Syndrom in einen neuen Verständniszusammenhang gestellt.

Summary:

According to literature the borderline syndrome is a severe disease whose aetiology deviates from the clinical observations made in 561 patients in a psychiatric praxis. The borderline symptoms resemble largely symbiotic behaviour which is caused in most cases by excessive binding to a parental object. By means of the concept of symbiosis the so-called borderline syndrome is put into a new frame of reference.

Schlüsselworte

Symbiosekonzept, Borderline-Syndrom, Spaltungsmechanismen

Mit psychiatrischen Diagnosen ist vorsichtig und präzise umzugehen, da Diagnosen über Schwere und Prognose der Krankheit aussagen. Auch Patienten wissen eine Krankheitsbezeichnung einzuschätzen und ziehen aus ihr Schlüsse, die im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung die Selbsteinschätzung und den therapeutischen Verlauf negativ beeinflussen können.

Das Borderline-Syndrom ist bis heute in der psychiatrischen und psychosomatischen Literatur umstritten (s. Literaturüberblick). Die Diagnose Borderline bedeutet für den Patienten und den Arzt, daß eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die im Grenzbereich zwischen Psychose und Neurose einzuordnen ist. Diese Aussage ist aber nach kritischer Überprüfung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil: Patienten mit einer Angstsymptomatik, mit Beziehungsstörungen und den anderen Symptomen, die zum Borderline-Syndrom gezählt werden, haben einen erheblichen Leidensdruck und sind durch ihre Nähe zum primärprozeßhaften Denken bereit, ihre Träume zu erinnern und sich den tiefenpsychologischen Zusammenhängen zu öffnen. Dadurch ergibt sich eine günstige Prognose. Diese Patienten bedürfen einer klaren Führung und klarer Vorgaben. Es sind nicht die Schwergestörten, sondern die leidensfähigen und umstellungsfähigen Patienten, die zu dem sogenannten Borderline-Syndrom gehören.

Die Borderline-Erkrankung kommt nach Angaben von Rohde-Dachser bis zu 70% in einer psychotherapeutischen Praxis vor (39). Diesen hohen Prozentanteil kann ich nach meinen Erfahrungen weitgehend bestätigen - die Symptomatik betreffend. Die Genese ist in der Mehrzahl der Fälle jedoch eine gänzlich andere, auch die Prognose ist nach meinen Erfahrungen günstig.

Ich komme in meiner nervenärztlichen Praxis seit Jahren ohne den Begriff des Borderline-Syndroms aus. Dennoch bin ich in meiner psychiatrischen Arbeit erfolgreich und benutze allein die anderen Begriffe der Neurosenlehre und der Geisteskrankheiten. Viele Fälle der Angsterkrankungen, der Süchte, der Phobien und der anderen neurotischen Störungen fallen unter die Diagnose Borderline, wenn man diese Diagnose verwenden will. Das Borderline-Syndrom ist aufgrund seiner diffusen und vielschichtigen Komplexität und vor allem wegen seiner wenig nachvollziehbaren Genese und Psychodynamik eine kritikwürdige Diagnose.

Hinzu kommt, daß diese Diagnose mit dem Makel einer schwerwiegenden Erkrankung behaftet ist, die in die Nähe der Geisteskrankheiten rückt. Der Borderline-Fall wird in den psychoanalytischen Instituten als eine schwere Störung angesehen, der eher von erfahrenen Psychoanalytikern behandelt werden sollte. Der Borderline-Patient ist nach der Terminologie von Kernberg ein Mängelwesen. Vieles ist mangelhaft und primitiv angelegt. Der Borderline ist panneurotisch, pansexuell oder sonstwie maskenhaft-dämonisch-unsympathisch in seiner Erscheinung.

Die bisherigen kritischen, wissenschaftlichen Arbeiten zum Begriff des Borderline-Syndroms bringen zwar begründete Gesichtspunkte, sie bieten jedoch keine anderen Konzepte an, welche die komplexe Symptomatik vieler Patienten in einen neuen Sinnzusammenhang stellen könnten.

Forschungsergebnisse der Psychoanalyse und der Psychiatrie ergeben sich vorwiegend aus Angaben und Beobachtungen, die das Erwachsenenalter betreffen. Hier wird zur Zeit ein Forschungsbereich vernachlässigt, nämlich die Traumanalyse. Das weite Feld der analytischen und tiefenpsychologischen Traumdeutung ist gegenwärtig kein bedeutendes Thema der Wissenschaft. Vor allem durch diese Vernachlässigung ist es zu erklären, daß die Borderline-Thesen und die Theorien von den sogenannten frühen präödipalen Störungen und frühkindlichen Traumata sich so lange halten können. Es wird zu wenig, nur beiläufig, in der psychoanalytischen und psychiatrischen Literatur darauf eingegangen, daß die Mehrzahl der sogenannten Borderline-Fälle unter einer langdauernden Symbiose mit einem elterlichen Objekt leidet (31, 12, 39, 49, 15).

 

Das Symbiosekonzept

Die Ergebnisse meiner psychiatrischen Behandlung von 561 Patienten mit 2610 Träumen zeigen, daß die Patienten mehrheitlich an einer persistierenden, pathologischen Symbiose zu einem ihrer Elternteile leiden und infantile, symbiotische Verhaltensweisen aufweisen. Diese Symptome, die im unterschiedlich ausgeprägten Maß bei einer pathologischen Symbiose auftreten, gleichen weitgehend der Symptomatik des Borderline-Syndroms, in ihrer Psychodynamik weisen sie jedoch erhebliche Abweichungen auf.

Das Symbiosekonzept bietet eine klare und handhabbare theoretische Struktur, die sich auf äußere Verhaltensmuster und vor allem auf tiefenpsychologische Konfliktbereiche bezieht. Ich habe das Symbiose-Konzept in meinem Buch "Angst - Ursprung und Überwindung" eingehend beschrieben (7).

 

Folgende symbiotische Verhaltensweisen sind zu nennen:

  1. Angst
  2. Passivität
  3. Identifikationsstörung und Überanpassung
  4. Innere Unruhe und Anspannung
  5. Ungeduld
  6. Kränkbarkeit und Wut
  7. Grandiosität
  8. Abwertungen
  9. Depressivität
  10. Sucht
  11. Sexuelle Störungen
  12. Destruktivität

Das Haftenbleiben in der Infantilität, in der Welt der kindlichen Vorstellungen und Reaktionsweisen, die Spannungszustände, die durch den Gegensatz zwischen dem erreichten Lebensalter und den infantilen, regressiven Persönlichkeitsanteilen hervorgerufen werden, manifestieren sich im symbiotischen Verhalten. Auch psychosomatische Symptome treten als Zeichen einer ungelösten, persistierenden Symbiose auf.

 

Literaturüberblick

Die Literatur über das Borderline-Syndrom läßt sich in drei Gruppen unterteilen:

a) die Gruppe, die das Borderline-Syndrom befürwortet:

Bronisch 1987, Eckert et al. 1987, Gunderson 1975, Heigl-Evers 1985, Jacobson 1977, 1978, Janssen 1990, Kernberg 1978, 1988, Leichsenring 1990, Mahler 1975, Masterson 1980, Modestin 1987, Rohde-Dachser 1979, 1980, Seidler und Katzberg 1988, Volkan 1978

b) die Gruppe, die das Borderline-Syndrom kritisch, aber auch zustimmend beurteilt:

Benedetti 1977, Kallert 1990, Kindt 1981, Saß und Koehler 1983, Schulze 1984

c) die Gruppe, die das Borderline-Syndrom ablehnt:

Bochnik und Gärtner-Huth 1981, Elliger 1989, Frosch 1988, Rich 1978, Wöller und Huppertz 1984, Wurmser 1989

Typische Symptomenkomplexe der Borderline-Störung nach Kernberg und Rohde-Dachser

Kernberg unterscheidet einerseits typische Symptomenkomplexe bei der Borderline-Störung, andererseits fordert er zur Diagnosestellung die strukturelle Analyse. Im folgenden beziehe ich mich auf die wesentlichen diagnostischen Kriterien von Kernberg und Rhode-Dachser (23, 39).

 

Angst

Angst geht mit einer Vielfalt von körperlichen und seelischen Symptomen einher. Angst ist wesentliches Kennzeichen jeder Entwicklungskrise bei symbiotischer Bindung.

Frei flottierende Angst, die für das Borderline-Syndrom typisch sein soll, kommt beim Angstneurotiker häufig vor. Auch Panikattacken, plötzlich aufkommende Angst vor bestimmten Gegenständen oder Begebenheiten, mit Herzrasen, Schwindel und den typischen körperlichen Angstäquivalenten sind Symptome bei ungelöster Symbiose. Die Einteilung in verschiedene Ängste bringt weder für Diagnose noch für die Therapie einen Sinn, da die Psychodynamik die gleiche bleibt. Die Angst steht in den meisten Fällen für den Ruf der elterlichen Objekte: "Komm zurück, du hast Angst vor dem Leben, vor Sexualität, vor der Aggressivität, vor den Dingen, die Selbstverwirklichung bedeuten." Es sind Über-Ich-Ängste und Trennungsängste zu nennen und Ängste vor aggressiven und sexuellen Impulsen, auch Angst vor jeder Lebenssituation, der man sich als Folge seiner Erziehung nicht stellen darf.

 

Polysymptomatische Neurosen, Phobien

Die Systematik der oben genannten symbiotischen Verhaltensweisen ist übersichtlich, jedoch vielfältig. Sie umfaßt also ein weites Spektrum neurotischer Symptome, die von Kernberg beim Borderline-Syndrom postuliert werden.

Phobien weisen die gleichen pathogenetischen Mechanismen auf, wie sie bei der Angstneurose auftreten. Die phobische Fehlhaltung ist lediglich ein an der Oberfläche liegendes Symptom, hinter dem sich regressive Wünsche, Loslösungskonflikte, aggressive und sexuelle Gehemmtheit verbergen. Bei den Phobien werden die aggressiven und angsterregenden Phantasien auf ein äußeres Objekt gerichtet mit dem Ziel der Verdrängung aggressiver Impulse gegenüber dem verschlingenden und bindenden Objekt. Die Phobien sind durch relativ stabile und zwanghafte Abwehrstrukturen gekennzeichnet.

 

Zwangssymptome

Die Entstehung von Zwangssymptomen ist komplex. Zwangssymptome sind einerseits Ausdruck von infantilen Allmachtsphantasien, andererseits sind Zwangssymptome verinnerlichte Elternbilder, die sich gegen das eigene Selbst richten. Zwangsneurotische Symptome hindern das Leben. Der zwanghafte Gedanke geht über in die Besessenheit, die auch für die Sucht kennzeichnend ist. Das Sich-Nicht-Lösen vom allmächtigen Objekt, das den Patienten auf einer archaischen Ebene beherrscht, schlägt sich in zwangsneurotischen Symptomen nieder. Die Besessenheit vom Zwangs- oder vom Suchtgedanken ist der Besessenheit vom allmächtigen Objekt gleichzusetzen.

 

Bewußtseinsstörungen, Entfremdungserlebnisse

Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen treten auf, wenn sich der Patient entwickelt. Sie entstehen als Äquivalente von Schuld- und Angstgefühlen. Die Auflösung der Symbiose und die Integration abgespaltener bisher fremder Persönlichkeitsanteile gehen mit einer Lockerung der Ich-Funktionen einher, hervorgerufen durch Schuldgefühle und ein übermächtiges Gewissen, das Loslösung und Autonomie erschwert.

 

Hypochondrie

Die Hypochondrie ist weder selten noch umstritten, wie Kernberg meint (23). Die Hypochondrie ist wesentliches Kennzeichen der Angstneurose. Das stete Sich-Beschäftigen mit dem eigenen Körper entspricht der zu geringen Beschäftigung mit der Außenwelt und spiegelt die vorwiegende Beschäftigung des allmächtigen Objekts mit dem Kind. Die Mutter hatte sich z. B. viel zu sehr um die Gesundheit, die Befindlichkeit ihres kleinen Augapfels gekümmert und versucht, es vor dem Übel und den Dingen der Welt zu bewahren. Die Hypochondrie ist eine Art Zwangsbesessenheit in bezug auf das Wohlergehen des eigenen Körpers. Hypochondrie resultiert auch aus Schuldgefühlen, die auftauchen, wenn der Patient versucht, sich vom allmächtigen Objekt zu lösen.

In den bisherigen Berichten über das Borderline-Syndrom ist die Psychosomatik dieser Patienten kaum erwähnt worden. Masterson beschreibt Asthmaanfälle und Magenbeschwerden als regressive psychosomatische Symptome (33). Psychosomatische Erkrankungen treten zusammen mit anderen neurotischen Symptomen auf, wenn Wachstumsimpulse gegen die Bindungskräfte allmächtiger Objekte wirken (7, 45, 46, 50).

 

Paranoide Symptome

Paranoide Symptome sind als Projektion und Abwehr aggressiver und oraler Triebimpulse zu verstehen, die ursprünglich einem allmächtigen Objekt gelten. Paranoide Phantasien kommen auch bei symbiotisch gebundenen Patienten vor, die ihre Ängste und den verdrängten Haß gegenüber dem zerstörerischen und verfolgenden Objekt auf die Außenwelt projizieren.

 

(Polymorph-perverse) Sexualität

Die Bindung an das elterliche Objekt führt nach meinen Beobachtungen nicht immer, jedoch häufig zu einer Bindungsunfähigkeit und einer starken Beimischung von Aggressivität zur Sexualität (7). Die weitgehende Verdrängung der Sexualität oder der kompensatorisch ausgeübte Don-Juanismus sind Merkmale einer Hingabestörung und Angst vor Nähe. Die Macht und der Sog der elterlichen Bindungen verhindern das Eingehen einer monogamen Partnerschaft.

 

Sucht

Die Süchte sind typische Beispiele von symbiotischem Verhalten. Die Sucht als die Suche nach dem mütterlichen Objekt und dem gleichzeitigen Besessensein von diesem Objekt weist auf Symbiose hin.

Sucht ist immer auch eine Suche nach der Vergangenheit, nach dem narzißtischen Primärzustand, dessen Erreichen Zufriedenheit und Glückseligkeit verspricht. Matussek spricht vom "Bedürfnis nach Wiederherstellung der ursprünglich an der Mutter erfahrenen Dualunion"... und "den Versuchen, die durch die Welt ständig versagte infantile Begegnungseinheit wiederherzustellen" (34). Das suchtartige Bestreben nach Neubelebung der kindlichen Einheit mit der Mutter nimmt überhand und dient dem Rückzug aus der Welt, in der Eigenständigkeit und Verantwortung vermieden werden.

Auch andere Autoren sehen in der Sucht das Bestreben, auf die Stufe eines Säuglings zu regredieren und mit der Mutter zu verschmelzen (22, 30, 37, 47).

 

Erhöhte Aggressivität

Entsprechend der vielschichtigen Determinierung menschlichen Verhaltens weisen narzißtische Kränkbarkeit und Wut einen mehrfachen Ursprung auf.

Vorwiegend wird in der psychoanalytischen Literatur der Begriff der narzißtischen Wut als das Wiedererleben archaischer Wut auf grund von Kränkungen verstanden, die durch mangelnde Empathie, Frustration oder Verlusterlebnisse in der Kindheit entstanden sind (23, 28, 39). Narzißtische Kränkbarkeit und Wut entstehen nicht nur durch traumatische Zurückweisungen und orale Frustrationserlebnisse, sondern auch durch den Wunsch nach Verschmelzung mit einem archaisch-omnipotenten Objekt. Das Streben nach symbiotischer Verschmelzung ist umfassend und so elementar, daß es in der Regel an der Realität scheitert und Enttäuschungen auftreten.

Der symbiotisch gebundene Mensch reagiert auf diese Frustration mit einer Kränkungshaltung und häufig mit Aggressivität. Mit Hilfe aggressiven Schweigens oder eines Jähzornanfalls oder anderen aggressiven Verhaltens soll die ursprüngliche symbiotische Einheit wiederhergestellt werden. Die Wut des enttäuschten Kindes, das eine allgegenwärtige und umsorgende Mütterlichkeit vermißt, richtet sich im Erwachsenenleben gegen andere oder gegen sich selbst. Sie entspringt in beiden Fällen infantilen, symbiotischen Verschmelzungswünschen und dem Impuls nach Rache an einer enttäuschenden Realität.

Es wurde bisher in der psychoanalytischen Literatur zu wenig beachtet, daß narzißtische Wut nicht nur durch frühkindliche Kränkungen und Traumata entsteht, sondern primär ein infantiles Verhalten ist und auch der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Symbiose dient.

Manche Eltern grenzen sich gegenüber dem aggressiven Verhalten ihres Kindes nicht genug ab oder neigen selber zu Wutanfällen. Sie heißen insgeheim oder auch offen die Wutanfälle des Kindes gut. Das Kind behält die Wutanfälle über die Kleinkindphase hinaus bei, da ihm nicht genügend Grenzen gesetzt worden sind. Der Erwachsene glaubt, durch sein Verhalten etwas erreichen zu können, wie es ihm damals als Kind möglich war. Mit dem Jähzornanfall manipuliert der Erwachsene seine Umwelt nach dem Motto: "Wenn du nicht willst, wie ich will, dann kriege ich eben einen Wutanfall und du wirst schon sehen, daß ich meinen Willen durchsetze!"

Der Symbiotiker neigt dazu, sich selbst mitsamt seiner Vergangenheit, seiner Art des Denkens, des Handelns und Fühlens zu verabsolutieren. Was er sagt, tut und fühlt ist richtig. Der Symbiotiker zeigt Enttäuschung und beleidigtes Verhalten, wenn seinen Wünschen nicht entsprochen wird. Er mault, stunden- oder tagelang, je nachdem wie tief er sich gekränkt fühlt. Er sieht sich von seinem Partner oder seinem Therapeuten, an die zu große Erwartungen und Wünsche gestellt werden, enttäuscht.

Der Gekränkte zieht sich zurück. Er ist nicht in der Lage, sich mit einem Partner über die Kränkung zunächst zu unterhalten oder seinen Ärger zu verbalisieren. Schweigen als Rückzugssyndrom bei regressiven Wünschen, als Strafe und als Ausdruck der Unfähigkeit, Ärger adäquat zu äußern, ist die Folge. Nachdem sich genügend Wut in dem gekränkten Partner angestaut hat, explodiert er aus einem geringen Anlaß heraus und zeigt einen infantilen Wutausbruch.

Eine weitere Quelle der Wut besteht darin, daß mit dem Eingehen einer Partnerschaft der symbiotisch gebundene Partner Abschied vom elterlichen Objekt nimmt. Der Abschied ist mit Trauer und Wut verbunden, die um so stärker sind, je fester die Bindung an die Eltern gewesen ist. Aus der Trauer und der Enttäuschung heraus, daß der Partner einem nicht alle Wünsche erfüllt, entsteht Wut, welche die Nähe zum anderen zerstört. Das Festhalten an der Vergangenheit führt auch zur Ablehnung der Gegenwart und der Bezogenheit zum Partner.

In Phasen der psychischen Entwicklung verstärkt sich als Ausdruck von Trauer und verstärktem Suchen nach Symbiose die Neigung zu aggressiver Gereiztheit und Wutanfällen. Der jeweilige Individuationsschritt geht mit erhöhter Kränkbarkeit, Ungeduld und Wut einher. Auch psychosomatische Angstsymptome und depressive Symptome sind verstärkt zu beobachten.

Während die Kränkungsreaktionen den Abstand zum Gegenüber vergrößern und Nähe verhindern, kann ein Wutanfall aber auch Nähe schaffen. Manchmal ist in einer verhärteten Partnerschaft die Wut der letzte Versuch, zum Gegenüber Kontakt herzustellen und ihn aus seiner Arroganz und Symbiose herauszuholen.

Erhöhte Kränkbarkeit und Wut sind Zeichen von Symbiose und infantilem Verhalten. Je stärker sich ein Elternteil des Kindes bemächtigt hat, desto größer wird die Ambivalenz und die verdrängte Wut gegen ein grenzüberschreitendes und verschlingendes Objekt sein. Vom Vater fühlt sich der Symbiotiker verlassen, da dieser oft eine schwache Position in der Familie einnimmt. Eine häufige Antwort der Patienten auf die Rolle des Vaters in ihrer Familie ist: "Mein Vater hat wenig Zeit für mich gehabt und sich wenig um mich gekümmert." Aus der mangelnden Zuwendung des Vaters zum Kind resultiert einerseits eine ungenügende Fähigkeit, auf die Welt zuzugehen und sich ihrer realitätsgerecht zu bemächtigen, andererseits sind die Kinder gekränkt und enttäuscht über die fehlende Liebe des Vaters. Auch aus dieser Enttäuschung entspringen erhöhte Verletzbarkeit, Kränkbarkeit und narzißtische Wut.

 

Charakterstörungen von niederem Strukturniveau

Die infantile Persönlichkeit soll nach Kernberg häufig bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen vorkommen (23). Dieses spricht für die These der symbiotischen Bindung.

 

Selbstdestruktivität

Selbstdestruktivität oder Suizid treten auf als regressives Symptom und als Ausbruchsschuld bei dem Versuch, sich aus der Symbiose zu lösen (7, 22, 45).

 

Depression

Der symbiotisch gebundene Mensch, insbesondere der Angstneurotiker, lebt in seinem Familiengefängnis, das ihm wenig innere und äußere Freiheit gestattet. Auch wenn der Symbiotiker, - der Narzißt- beruflich erfolgreich ist und sich seine eigene Bühne, die von den narzißtischen Größenphantasien mitgestaltet wird, gebaut hat, so bleibt er dennoch im privaten Bereich häufig ein Opfer familiärer Bindung. Er ist nicht in der Lage, seine Aggressivität einem nächsten Partner gegenüber adäquat zu äußern und die Ambivalenz von Liebe und Haß gegenüber einer Person auszuhalten und zu empfinden. Er wird bei der fehlenden Fähigkeit, zu lieben und zu leben, unterschiedlich ausgestaltete depressive Züge entwickeln.

Die depressiven Verstimmungen stammen auch aus der Suche nach dem verlorenen Paradies, nach dem mütterlichen oder väterlichen Objekt, das endgültig aus der Realität entschwunden ist. Die alles verstehende und verschlingende Mutter steht nur noch in der Welt der Phantasie zur Verfügung und wird herbeigesehnt mit dem Sehnsuchtsschmerz und der Depressivität, die das Aufsuchen vergangener paradiesischer Situationen mit sich bringt.

 

Identitätsstörung

Die Identitätsstörung ist ein typisches Symptom des symbiotisch gebundenen Menschen. Der Symbiotiker hat seine Antennen zu sehr auf Empfang gestellt, er hat eigene Vorstellungen und Antriebe bei den häufigen Grenzüberschreitungen seiner Eltern zu wenig äußern können. Er hat sich auf die Bedürfnisse eines anklammernden, an einer eigenen, persistierenden Symbiose leidenden elterlichen Objektes einstellen müssen, so daß er eine Identitätsstörung und eine nicht ausreichende Differenzierung des Selbst vom Objekt im späteren Leben aufweist.

 

Minipsychose

Die Minipsychose ist Zeichen einer Übertragungspsychose, die durch eine orthodoxe, analytische Behandlung entstehen kann. Die Minipsychose ist als Resultat einer die Regression fördernden, therapeutischen Situation zu werten. Der Begriff der Minipsychose wird der Schwere dieser Krankheit nicht gerecht, sondern bagatellisiert die Möglichkeit, daß mit einer Psychose eine Schizophrenie beginnt. Zwei Fälle aus meiner Praxis sind mir bekannt, bei denen ich diesen Verlauf beobachtet hatte. Zunächst hatte ich im Glauben, daß es sich bei diesen beiden Patienten um eine vorübergehende paranoide Reaktion handle, die Psychotherapie über längere Zeit fortgeführt. In beiden Fällen entwickelte sich jedoch eine Schizophrenie.

 

Ich-Schwäche

Nicht die Spaltung ist die Hauptursache der Ich-Schwäche (23), sondern Ich-Schwäche beruht auf einer fehlenden Möglichkeit, die Ich-Funktionen in der Kindheit zu entwickeln und einzuüben. Ein Kind kann durch unzureichende Wahrnehmung seiner selbst und der Außenwelt an ein elterliches Objekt gebunden werden, indem es daran gehindert wird, bestimmte Ich-Funktionen zu erlernen. Fehllaufende Kommunikation, mangelnde Unterscheidung zwischen Ich und Du und Umdefinierung der Gefühle sind einige Mechanismen,mit denen die Selbst- und Fremdwahrnehmung verzerrt werden kann. Hierüber haben Stierlin und ich ausführlich berichtet (7, 45). Ich-Schwäche hat ihre Ursache auch in einer diffusen Angst, die das Denken blockiert. Die stets mit der Symbiose einhergehende archaische Aggressivität gegen das bindende elterliche Objekt führt zu einer Beeinflussung der Ich-Stärke, indem die Wut, die Angst vor der Wut, Gewissensangst und Schuldgefühle das Ich überfluten. Die Verzerrung der Wahrnehmung und der Realität entspricht infantilen Denk- und Wahrnehmungsmustern, die sich mehr nach eigenen Vorstellungsbildern richten als nach der Außenwelt. Der symbiotisch Gebundene nimmt die Außenwelt aus der Perspektive des grandiosen, geliebten und narzißtisch besetzten Kindes wahr, das noch in einer Einheit von Mutter und Kind lebt und seine Ich-Funktion nur in Teilbereichen gut entwickelt hat.

 

Triebhafter Charakter oder mangelnde Impulskontrolle

Der triebhafte Charakter hat seine Ursachen in der Infantilität. Kinder verhalten sich triebhaft. Die fehlende Erwachsenenwelt dieser Menschen dokumentiert sich eben in der Triebhaftigkeit.

 

Spaltungsmechanismen

Die Spaltung des Denkens, Fühlens und Handelns, die E. Bleuler bei seinen Kranken beobachtete, hat ihn dazu veranlaßt, den Begriff der Schizophrenie zu prägen (2). Freud beschrieb die Ich-Spaltung als eine Abwehrfunktion gegenüber einem Triebanspruch (9). Mit Jaspers handelt es sich bei dem Erleben und Erfassen von Gegensätzlichkeiten, von Polarität und Dialektik "um eine universale Form des Denkens" und "allen Seins" (19).

Kernberg bezeichnet Spaltung als das aktive voneinander Trennen von Introjektion und Identifizierungen gegensätzlicher Art. Beim Borderline-Syndrom stellt die Spaltung nach Kernberg einen Abwehrmechanismus dar, der gegensätzliche Ich-Zustände voneinander getrennt hält, die an frühe, pathologische Objektbeziehungen gebunden sind (23).

Der Begriff der Spaltung, wie ihn Kernberg, Rohde-Dachser und Volkan definieren, ist verworren und in seiner Genese und Psychodynamik nicht nachvollziehbar. Die Literatur um den Begriff der Spaltung ist angefüllt mit abstrahierenden, wenig scharf umrissenen Begriffen der Klein'schen und Kernberg'schen Schulen, wobei sich vor allem Melanie Klein einer schweren, dunklen und daher unklaren Sprache bedient (26, 27).

Ein spezifischer, primitiver Spaltungsmechanismus, den die oben genannten Autoren postulieren, spielt in meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis nicht die zentrale Rolle, wie nach den Angaben der Literatur zu vermuten wäre. Eine wesentliche Ursache hierfür ist darin zu sehen, daß die typische, analytische Situation regressive und dissoziative Spaltungsvorgänge im Patienten entstehen läßt und fördert, so daß sie dem Psychoanalytiker als pathologische Phänomene erscheinen. Dabei reichen die von Sigmund und Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismen völlig dazu aus, Absprengungen oder Abspaltungen bestimmter Persönlichkeitsanteile oder Triebregungen verständlich werden zu lassen (8).

Wo das Empfinden von Gegensätzlichkeiten einen zu großen Raum einnimmt, haben wir es mit infantilen, dem Primärprozeß nahen, grandiosen Denk- und Verhaltensweisen zu tun. Die simplifizierende Verherrlichung der einen und die Verachtung der anderen Seite finden wir in den typischen angstneurotischen Familien, in Gruppen und Völkern, die durch Politiker und Ideologen in eine kollektive Regression geführt werden.

Als Psychiater sehen wir den Mechanismus der Auftrennung zwischen einer guten und bösen Welt, zwischen Idealisierung und Abwertung besonders in der Therapie. Die Trennung in Gut und Böse mit einem plötzlichen Umkippen der Idealisierung in die völlige Abwertung hat den Sinn und das Ziel, die Beziehung zum Partner, zur Berufswelt oder zum Therapeuten abzubrechen, wenn die Beziehung einerseits zu dicht wird oder aber den Idealvorstellungen nicht mehr entspricht. In diesem Moment bleiben von Zuneigung und Liebe wenig oder nichts übrig, sondern der bislang geliebte Mensch wird für kürzere oder längere Zeit verteufelt und abgewertet. Im Verlaufe von Stunden, Tagen oder Wochen weichen die Haßgefühle zumeist einem positiv getragenen Gefühl - der Liebe.

Die völlige Abwertung des geliebten Menschen über einen gewissen Zeitraum entspricht dem archaischen, aufgestauten Aggressionspotential, das enorm ist und keine positiven Seiten am anderen zuläßt. Es gelingt dem Symbiotiker in der Regel nicht, mit dieser enormen Wut umzugehen. Es gibt für ihn entweder den Weg des Rückzugs, der völligen Abwertung, wobei er Gefahr läuft, die Beziehung zu zerstören, oder aber er idealisiert seinen Partner weiterhin und verdrängt seine archaische Wut, die den Partner sonst treffen würde. Aufgabe des Erwachsenen ist es aber, seine infantilen Aggressionen zu überwinden, die inneren Gegensätze seiner Persönlichkeit bewußt werden zu lassen und zu integrieren.

Die Suche nach Verschmelzung und Wiederherstellung der symbiotischen Einheit mit dem allmächtigen Objekt wird vom Symbiotiker zwar heftig betrieben, das Wiederauffinden des Paradieses gelingt ihm aber nicht mehr. Auf diese Enttäuschung reagiert er mit brüsker Ablehnung, die sich als Abbruch der Beziehung darstellen kann. Je stärker der symbiotisch gebundene Patient mit dem allmächtigen Objekt eine Einheit bilden möchte, desto mehr wird er auf reale Enttäuschungen mit Abwertungsmechanismen reagieren, die das Umschlagen von Zuneigung in Enttäuschungsärger beinhalten. Nachdem der Symbiotiker die Symbiose unter Schuldgefühlen und einer Fülle von Symptomen gespalten hat, ist er nicht mehr genötigt, Beziehungen zu spalten und abzubrechen, sein Gegenüber übermäßig abzuwerten und abzulehnen, da er nach Auflösung der Symbiose zu einer erwachsenen Ich-Du-Beziehung befähigt ist.

 

Primitive Idealisierung

Die Neigung, äußere Objekte übermäßig zu idealisieren, ist in ihrer starken Ausprägung eine infantile Haltung. Sie entstammt der Identifikation mit dem allmächtigen Objekt. Kernbergs Feststellung, daß die idealisierte Person "als Beschützer gegen eine Welt voller gefährlicher Objekte (23) auftritt, stützt meine Beobachtungen über symbiotische Verhaltensweisen beim "Borderline-Patienten."

 

Projektive Identifikation

Die projektive Identifikation spielt in meiner Nomenklatur keine Rolle. Der Begriff wurde von der Klein'schen Schule entwickelt, deren unklaren Sprache ich bemängelt habe. Auch Wurmser hat sich kritisch zu diesem überflüssigen Begriff der Psychoanalyse geäußert (52).

 

Grandiosität und Allmacht

Grandiosität und Allmacht sind symbiotische Verhaltensweisen. Sie sind nicht "direkte Manifestation primitiver Introjektion und Identifizierung zu Abwehrzwecken" (23), sondern sie stehen in einem direkten Zusammenhang mit der infantilen Symbiose. Ein Mensch, der in der Welt der Kindheit hängengeblieben ist, der seine infantilen Größenphantasien weiterhin nährt und verwirklichen will, der so sehr von seiner Mutter in diesen Größenphantasien bestärkt worden ist, durch ihre allumfassende Zuwendung und Liebe; ein Mensch, der in seinen Grenzen, in seiner Identität so sehr gestört worden ist, wie es bei symbiotisch gebundenen Menschen vorkommt, der wird kompensatorisch, aber auch gefüttert durch die narzißtische Liebe seines mütterlichen Objektes, Allmachtsphantasien hegen und verwirklichen wollen. Sie werden kompensatorisch gebildet infolge von Ohnmachtsgefühlen gegenüber allmächtigen Objekten.

In folgenden Redewendungen findet sich Grandiosität:

Nie werde ich heiraten.

Das werde ich niemals tun.

Das habe ich immer schon so gemacht.

Das schaffe ich nie.

Ich interessiere mich für nichts.

Keiner kann mir helfen.

Keiner versteht mich.

Keiner liebt mich.

Ich habe schon alles versucht. Kein Therapeut ist gut für mich.

Du hörst mir nie zu.

Sowohl in therapeutischen Beziehungen als auch in den Partnerschaftskonflikten ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß Sätze wie "Keiner hat mich lieb" oder "Keiner versteht mich" nur dazu dienen, die Symbiose mit dem elterlichen Objekt aufrechtzuerhalten. Der grandiose Mensch ist nicht bereit, aus seinem mütterlich-kindlichen Beziehungsmuster auszusteigen und sich auf die jetzige Beziehung einzulassen. Es ist schwierig, an derartige Menschen heranzukommen und sie zu einem anderen Verhalten zu bewegen. Sie sind schnell gekränkt, ziehen sich beleidigt zurück, oder sie reagieren mit narzißtischer Wut.

Grandiosität findet sich beim Narzißten, der zu sehr in seine eigenen Ideen verliebt und überzeugt ist von seiner Großartigkeit in bezug auf seine Begabungen und seine Ideen. Er scheitert jedoch häufig in engen, zwischenmenschlichen Beziehungen.

Grandiosität kann auch aus der Abwehr einer depressiven Grundstimmung entstehen. Anstatt die Depressivität und Trauer, die notwendigerweise im Loslösungsprozeß entsteht, zu ertragen, wird sie bei den Menschen, die sich grandios verhalten, verdrängt und in ihr Gegenteil verkehrt.

 

Abwertungen

Der Symbiotiker wertet ab, wenn die Nähe unerträglich groß wird. Abwertungen haben den Sinn, die Symbiose zu den Eltern aufrechtzuerhalten, da Abwertungen zurück zum elterlichen Herd führen. Wer abwertet, fühlt sich nicht wohl in der Welt, sondern er mäkelt an vielem herum, um Beziehungen abzubrechen und eine Zugehörigkeit zu verhindern. Der Symbiotiker versucht, das Weltbild der Kindheit zu erhalten, indem er die Realität umdeutet und herabsetzt.

Abwertungen sind gleichzusetzen mit Zweifeln. Auch die Zweifel dienen dazu, die Symbiose zu erhalten. C.G. Jung sieht im Zweifel das Wirken der ungelösten Mutterbindung: "Jedes Hindernis, das sich auf seinem Lebenspfad türmt und seinen Aufstieg bedroht, trägt schattenhaft die Züge der furchtbaren Mutter, die mit dem Gifte des heimlichen Zweifels und des Zurückweichens seinen Lebensmut lähmt, und in jeder Überwindung gewinnt er die lächelnde Liebe und lebensspendende Mutter wieder" (20).

Dem Zweifel können sämtliche Lebenssituationen unterworfen werden, die Entscheidungen erfordern. Häufig sind die Zweifel oder die Abwertungen gegenüber dem Ehepartner oder in der therapeutischen Situation. Die große Nähe derartiger Beziehungen wird nicht ertragen oder als harmonisch erlebt, sondern als bedrohlich und verschlingend. Um diesem regressiven Sog und der gefürchteten Allmacht zuvorzukommen, wird die Nähe durch Abwertungen zerstört.

Der Symbiotiker will durch Umdeutung der Realität die Welt der Kindheit wiedererstehen lassen. Zu dem Zweck, die Symbiose zu bewahren, wird die Welt in eine gute und böse gespalten. Die Außenwelt wird abgewertet, während die Familie, die das Gute verkörpert, idealisiert wird. Aggressivität wird nur gegen die Außenwelt zugelassen. Innerhalb der Familie wird die Aggressivität ausgeblendet. Direkte, aggressive Äußerungen sind tabuisiert, so daß sie nach außen projiziert werden oder sich in Krankheitssymptomen manifestieren.

 

Narzißmus

Auch Kernberg vertritt die Theorie von der frühen Störung, die durch frühe orale Traumata und enorme prägenitale Aggression hervorgerufen wird. Die Nähe des Borderline-Syndroms zum Konzept des Narzißmus liegt darin begründet, daß im Narzißmus eine harmlosere, weniger lärmende und symptomreiche Form symbiotischen Verhaltens zu sehen ist. Wenn sich aber der Narzißt seiner Ablösungs- und Individuationsproblematik stellt, setzt auch bei ihm oft eine laute, vielfältige Symptomatik ein.

 

Zur Genese des Borderline-Syndroms:

Rohde-Dachser und andere Autoren sind im wesentlichen der Auffassung, daß das Borderline-Syndrom aus "einer frühen und tiefgreifenden Störung der Mutter-Kind-Beziehung resultiere, die sich niemals zu jener unerläßlichen tragend-symbiotischen Form ausgestaltet habe, die das Fundament der Ich-Entwicklung, insbesondere der Differenzierung von Selbst und Objekten darstellt und einem Kind 'Urvertrauen' vermittelt" (39). Masterson stellt folgende Überlegungen zum Entwicklungsaspekt des Borderline-Syndroms an: "Die oben erwähnten Autoren zeigen beträchtliche Übereinstimmung bezüglich der klinischen Merkmale des Borderline-Zustandes, die sie mit großer Klarheit darlegen. Diese Klarheit verschwimmt jedoch zu vagen und allgemeinen Formulierungen, wenn sie seine entwicklungsmäßigen Ursprünge diskutieren" (33). Masterson sieht mit Mahler die Entstehung des Borderline-Syndroms in einem Mißlingen der Separation-Individuation, die durch eine regressive, anklammernde und auf Selbständigkeit des Kindes mit Liebesentzug reagierende Mutter entstanden ist (33, 32). Während Masterson sich eindeutig von den anderen psychoanalytischen Autoren in seiner Theorie über die Genese des Borderline-Syndroms abgrenzt, behält er die These eines liebesentziehenden mütterlichen Objekts bei, das zu einer Borderline-Struktur führt. Diese These läßt sich nach meinen Beobachtungen nicht halten: Der Liebesentzug stellt durch das Schaffen von Schuldgefühlen lediglich einen von vielen Bindungsmechanismen dar.

Es ist erstaunlich, wie zahlreiche Psychoanalytiker und Psychiater über die Genese und Psychodynamik des Borderline-Syndroms Thesen formulieren, die sich jedoch klinisch selten nachweisen lassen. Dabei wissen wir, daß Patienten in ihrer unersättlichen Gier und in ihrer Riesenanspruchshaltung ihre Kindheit oft verzeichnen und verzerren.

Die langjährige, psychoanalytische und tiefenpsychologische Arbeit an 561 Patienten und deren Träumen zeigt, daß frühkindliche Traumata an der Entstehung von Angst, Phobien, Süchten und anderen neurotischen Symptome nicht die Rolle spielen, die ihnen bisher zugeschrieben wird. Vielmehr führen ungelöste Bindungen an ein allmächtiges, verschlingendes Objekt zu der Vielfalt der beschriebenen Symptome. Auch Jung, Kast und Stierlin sind wesentliche Vertreter dieses psychodynamischen Konzeptes (20, 22, 45).

Es ist vor allem festzustellen, daß die Patienten nicht nur in der frühen und späteren Kindheit auf vielschichtige Art und Weise an ein allmächtiges Objekt gebunden wurden, sondern daß sie auch in der Adoleszens weiterhin von diesem elterlichen Teil umklammert und beeinflußt werden mit dem unbewußten Ziel, die Individuation und Separation des Adoleszenten zu verhindern.

Nicht frühe, orale Traumata, nicht exzessive Enttäuschungsaggressionen, nicht eine gesteigerte Kastrationsangst oder andere frühkindliche Mangelsituationen und Entbehrungserlebnisse sind also an der Entstehung des sogenannten Borderline-Syndroms beteiligt, sondern viele Phänomene des Borderline-Syndroms lassen sich mit dem Konzept der Symbiose und der Bindung einleuchtender und sehr viel nachvollziehbarer erklären.

 

Erschienen in der Zeitschrift: TW Neurologie Psychiatrie 11 (1991), S. 623-634

 

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